Für die AfD geht ein ambivalentes Jahr zuende. Angeschlagen von der Stagnation der Vorjahre, war die Partei in der ersten Jahreshälfte im Krisenmodus und konnte sich am Ende vor allem durch externe Lagebedingungen wieder gesund wachsen und konsolidieren. Wir analysieren die wichtigsten strategischen Etappen und geben einen Ausblick über die kommenden Herausforderungen.
2023 wird die AfD ihr zehnjähriges Gründungsjubiläum feiern. Blicken wir auf den Langzeithorizont dieser Zeitepisode, so muss dieses Parteiprojekt immer noch als einmalige Erfolgsgeschichte gesehen werden. Insbesondere weil das rechts von der CDU stehende Parteienlager vor 2013 ein einziger politischer Friedhof gewesen ist.
Rund um den Nukleus der AfD sind eine Vielzahl metapolitischer und gegenkultureller Projekte gewachsen, die das rechtsoppositionelle Lager innerhalb weniger Jahre auf völlig neue Qualitätsebenen katapultierte. Der Rechtskonservatismus ist keine Randerscheinung mehr, sondern stößt in die Breiten verschiedener Milieus und mittleren Gesellschaftsspektren vor.
Bis 2020 verlief der Aufstieg der AfD nahezu ungebremst. Die Partei zog in alle Landesparlamente und den Deutschen Bundestag ein und verdoppelte im Osten der Republik ihre Ergebnisse bei den Wiedereinzügen. Der thematische Markenkern der Migrationskritik trug die AfD durch eine politische Konjunkturphase, in der sie sich auch ein solides Stammwählerpotential aufbauen konnte und gleichzeitig krisenfester gegenüber wechselnden Stimmungstrends und Stagnation machte.
Insbesondere die Periode zwischen 2020 und 2022 war für die AfD die erste Bewährungsprobe, wie eine Partei aus dem Erfolgsgenuss der Anfangsjahre, nun mit der harten und mühsamen Realität der Potentialbegrenzungen, ersten Verlusten und einem neuen thematischen Umfeld konfrontiert wird. Flankiert wird dies durch aufreibende Flügelkämpfe und Selbstfindungsprozesse, die in Zeiten von Stagnation und leichten Abwärtsbewegungen umso stärker auf die Parteiseele einwirken.
Meuthen Austritt – Ruhe und Gelassenheit
Nach dem ernüchternden Wahljahr 2021 galt es für die AfD zunächst den Abstiegstrend bei den größeren Landtagswahlen zu stoppen. Die Erwartungen fielen deutlich gedämpfter aus. Zu Beginn des Jahres konnte zumindest mit dem Austritt des damaligen Parteichefs Jörg Meuthen ein erster Knoten gelöst werden. Wie auch schon seine Vorgänger Petry und Lucke war Meuthen nicht mehr nur vom Zusammenhalt der Partei getrieben, sondern machte die Entwicklung der AfD zu seinem persönlichen egozentrischen Projekt. Auch um den Preis, einen Großteil der Partei ideologisch und strategisch zurückzulassen.
Mit der bestmöglichen Auslegung muss man Meuthen vielleicht keine diabolische Absicht oder gar Agententätigkeit unterstellen. Er hat sich jedoch völlig hoffnungslos in einem parteiinternen Stellungskrieg verkämpft und die AfD vor eine verabsolutierte Entscheidung gestellt.
Jeder strategische oder programmatische Dissens wurde zu einer generalisierten Schicksalsfrage für die Gesamtpartei hochstilisiert. Je nachdem welche Lager sich personell durchsetzen konnte, wurde entweder das Ende der Partei oder der große finale Aufbruch beschwört. Mit dem Weggang von Meuthen konnte diese destruktive Entwicklung zumindest auf der höchsten Führungsebene zeitweise neutralisiert werden. Der große Mitglieder- und Mandatsexodus im Nachgang blieb aus. Überraschend gelassen haben am Ende selbst vorherige Meuthen-Anhänger den Austritt registriert. Bei anderen verband sich damit zumindest die leise Hoffnung einer Refokussierung, weg von lähmenden Flügelkämpfen – hin zu konstruktiver inhaltlicher Arbeit und strategischen Zielumsetzungen.
Ungünstige Themenlage
Nach Meuthens Abgang mag man aufgeatmet haben. Doch der große Stresstest stand mit den wichtigen westdeutschen Landtagswahlen mit dem Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen noch aus. In den bundesweiten Umfragen bewegte sich nichts. Wie auch schon in den Vorjahren war Corona in den Frühjahrs- und Sommermonaten nur ein sekundäres Thema. Auch mit dem Scheitern der Impfpflicht konnte die Partei keine Alleinstellung für sich reklamieren. Der Krieg in der Ukraine war zu diesem Zeitpunkt noch ein rein außenpolitisches Thema. Und bekanntlich gewinnt man mit Außenpolitik nur selten Wahlen.
Während man über die letzten Jahre programmatisch auf eine moderne, ausgleichende und dialogbereite Politik mit Russland setzte, bekam auch die AfD am 24.02.2022 die Pistole auf die Brust gesetzt. Die Partei war sich unsicher in einer eindeutigen Positionierung und war abermals zu einem inhaltlichen Balanceakt zwischen Verurteilung des Angriffskrieges und der Verteidigung der eigenen außenpolitischen Prämissen im Parteiprogramm gezwungen.
Schon die Coronakrise zeigte anfänglich sowohl bei Funktionären als aber auch der eigenen Anhänger-Basis das Dilemma eines quasi 50:50 Verhältnisses, in dem sich zwei Positionen diametral gegenüberstanden. Auch bei der Russland-Frage konnte man zumindest die Kernanhängerschaft überwiegend halten, aber limitierte sich zugleich auch in einer erweiterten Potentialausdehnung und der Erschließung neuer Wählerschichten. Es waren keine Gewinnerthemen, mit denen die AfD in der ersten Jahreshälfte ihren Markenkern verfestigen oder gar in neue soziale Milieus ausgreifen konnte.
Die AfD-Anhängerschaft verbindet sich als eine gemeinsame Front, in der sich die inneren Kulturkämpfe der Bevölkerung zuspitzen. Die AfD wird gewählt, weil sie als Verteidiger konkreter traditioneller Lebensentwürfe auftritt, die durch Multikulturalismus und „Woke-Ideologie“ unter Beschuss geraten sind und zurückgedrängt werden. Das Zentrum ihrer Attraktivität ist ihre tiefenstrukturelle Repräsentativfunktion für ein bestimmtes gesellschaftlich-desintegriertes Milieu, die weder emotional noch habituell über das etablierte Parteienspektrum abgebildet werden.
Das Migrationsthema ist bis heute ihr entscheidender Mobilisierungstreibstoff. Dadurch ist die inhaltliche Bewegungsdynamik und Flexibilität bisweilen äußerst schwerfällig. Die Partei muss einerseits ihren oppositionellen Charakter bewahren und zugleich anschlussfähige kommunikative Zugänge freihalten. Es fehlt noch an renommierten und gut positionierten Fachpolitikern, die in ihren Schwerpunktfeldern auch sprechfähig sind und innerparteilich gezielt gefördert werden. Grundsätzlich fiel in der ersten Jahreshälfte jedoch ein Trend auf, bei dem die AfD immer der aktuellen Agenda nur hinterherlaufen konnte. Ihr fehlt es vorwiegend an öffentlichen Kommunikationsressourcen, um Themen zu setzen und zu dominieren. Die Themen der letzten Jahre scheinen zumindest keinen Impuls ausgelöst zu haben, der die Partei auch für neue Wählerschichten öffnet.
Erster Stresstest – Die Wahl im Saarland
Die AfD stand also spätestens ab Februar vor einer schwierigen Lage. In allen drei westdeutschen Bundesländern deuteten auch die Landesumfragen nicht auf einen sicheren Wiedereinzug hin, geschweige denn auf weitere Zuwächse. Das Saarland hatte nicht einmal einen eigenständigen kampagnenfähigen Landesverband, sodass der Wahlkampf unter anderem dazu genutzt werden musste um grundlegende Strukturierungsmaßnahmen in der dortigen Landespartei vorzunehmen, um zumindest das Wahlkampfminimum zu leisten.
Mit viel Bangen und Hoffen gelang schließlich der knappe Wiedereinzug mit 5,7 %. Mit einem Verlust von 0,6 % hielten sich die Verluste noch recht moderat, aber reihten sich dennoch in den Abwärtstrend der letzten sieben Landtagswahlen ein. Festzuhalten bleibt jedoch, dass es der AfD über die letzten Jahre gelungen ist, eine strukturelle Verankerung zu schaffen, die sie auch in die westdeutschen Parlamente trägt. Dieser Befund scheint sich völlig unabhängig des personellen Angebots oder den parteiinternen Querelen abzuzeichnen. Doch wie will man vorrangig im Westen ein knappes Stammwählerpotential weiter skalieren? Studien zeigen, dass die Sozialstruktur der AfD-Wählerschaft sowohl in Ost und West recht ähnlich gelagert ist.
Es ist der Protestausdruck abstiegsbedrohten Mittelschichten, die sich über die diametralen Mentalitäten eines kulturalisierten Wertekonfliktes politisiert haben. Anteilig an der Gesamtbevölkerung ist diese Gruppe im Westen kleiner vertreten als im Osten. Das heißt im Westen fehlt es vielleicht auch an politischen Räumen und sozialer Substanz, aus der man schöpfen könnte.
Vergangene Wahlen haben jedoch gezeigt, dass auch im Westen zweistellige Ergebnisse möglich sind. An diesen Wachstumshorizonten und Zielmarken wird sich die AfD messen lassen. Dieses Westpotential zwischen 7 und 12% ist möglicherweise vorerst auch die Stellung, die man in der dortigen politischen Einflussverteilung einnehmen wird müssen. Es liegt derzeit kein „Masterplan-Westdeutschland“ in den Schubladen parat. Daran sollte man auch das Erwartungsmanagement ausrichten und sich bspw. auf eine geographische Gebiets- und Schwerpunktförderung in den westdeutschen AfD-Hochburgen fokussieren. Beständige Arbeit innerhalb der Kernmilieus und Zielgruppen. Identifizierung von Skalierungsmöglichkeiten und realistischen Potentialen, fachpolitische Profilierung und kommunale Verankerung.
Der Westen ist nicht zur strategischen Ohnmacht und Visionslosigkeit verdammt. Aber die parteiinternen Debatten über „Gewinnerstrategien“ im Westen sollten auch reale demoskopische Lage- und Stimmungsbilder berücksichtigen. Eine Partei rechts der CDU ist im Westen aktuell nicht mehrheitsfähig. Sie kann theoretisch jedoch selbstbewusst einen politischen Raum von knapp 10 % der Wähler auch dort für sich reklamieren.
Der erste Schock in Schleswig-Holstein
Nachdem die erste Hürde des Wahljahres 2022 übersprungen wurde, folgte dann mit der Landtagswahl in Schleswig-Holstein der Schock. Erstmals flog die Partei in ihrer kurzen Geschichte aus einem Landesparlament. Umfragen zu Jahresbeginn prophezeiten bereits ein Bangen um den Wiedereinzug im hohen Norden. Die AfD sank zwischenzeitlich auf 4 % ab, aber konnte sich bei anderen Instituten auch wieder auf 5-6 % einpendeln. Da die meisten demoskopischen Forschungsstellen seit 2018 ihre Modelle gegenüber der AfD angepasst haben, war die Diskrepanz zwischen Umfragen und endgültigen Wahlergebnissen auch nicht mehr so hoch wie bspw. noch 2016.
Mit einem enttäuschenden Ergebnis verlor die AfD also ihre erste Landtagsfraktion. Insbesondere die starken Verluste an CDU, FDP und auch das Nichtwählerlager haben gelehrt, dass die Mobilisierung in Nichtwählerräumen offensichtlich an ihre Grenzen gestoßen ist. Schon die Geschichte rechter Parteien in der Bundesrepublik hat gezeigt, dass Zugewinne von Protestwählern immer in Abhängigkeit von günstigen Gelegenheitsstrukturen stehen, die vor allem durch konjunkturelle Themenlagen und schwindende Bindungskräfte etablierter Parteien entstehen. Mit einer ohnehin schwachen Ausgangslage wirken sich schmelzende Nichtwählermilieus für eine Partei wie die AfD verheerend aus. Das Sammeln von Nichtwählerstimmen in den Anfangsjahren hat eine erste solide Basis geschaffen. Doch dieses vermeintliche Potential liefert keine uneingeschränkte politische Energiezufuhr. Nichtwählerverhalten ist nur schwer zu kalkulieren. Die entsprechenden Milieus weisen zwar eine generelle Unzufriedenheit auf, die sie aber nur selten in rationale Wahlentscheidungsprozesse transferieren. Die Strategien zur Nichtwählermobilisierung sind mit einer Vielzahl unbekannter Variablen verbunden, die sich nicht dazu eignen spezifische Zielgruppen zu definieren und anzusprechen.
Fast die Hälfte der absoluten Stimmenverluste gingen in Schleswig-Holstein an die CDU und die FDP. Dies dürfte zwar auch mit einer allgemein größeren Zufriedenheit in dem Bundesland zusammenhängen, aber es weist zumindest auch auf aktive Fluktuationen und Dynamiken zwischen den traditionellen Bürgertumsparteien und der AfD hin. Der Ursprung kann in einer Wahrnehmung der AfD als radikalisierte Partei liegen, aber auch in einer allgemeinen Blässe und politischen Unscheinbarkeit in Wahlkämpfen und der Landesparteiarbeit.
Der Schock von Schleswig-Holstein war noch nicht vollständig verdaut, da stand nur zwei Wochen später, die wohl wichtigste Landtagswahl des Jahres in Nordrhein-Westfalen an. Auch wenn die Umfragewerte dort etwas mehr Anlass zu Optimismus gaben, war nicht sicher, ob Schleswig-Holstein möglicherweise auch einen Dominoeffekt auf die Partei auslöst. Mit einem Endergebnis von 5,4 % schien man jedoch zunächst mit einem blauen Auge davongekommen zu sein.
Die relativen Verluste in NRW zeigten aber im Lichte der historisch niedrigsten Wahlbeteiligung von 55 % eine etwas schärfere Dramatik, als zunächst anzunehmen war. Fast 2/3 der Gesamtwählerschaft kehrten der AfD im Vergleich zu 2017 komplett den Rücken. 70 % davon flossen ins Nichtwählerlager zurück. Obwohl Inflation und Preissteigerungen schon in die Diskurse sickerten, reichte es in NRW noch nicht für einen positiven Mobilisierungseffekt. Vor allem die vergleichsweisen starken Verluste in den Hochburgen wie dem Ruhrpott verdeutlichten insbesondere für NRW ein Überzeugungsproblem bei der Kernanhängerschaft, die offensichtlich zu großen Teilen den Wahllokalen fernblieb. In vielen NRW-Regionen, wo sich noch 2017 auch im Westen das Kernprofil der AfD als Partei der traditionellen Industriearbeiterschaft schärfte, verlor es 2022 an Akzentuierung und Schärfe. Wenngleich die Arbeiterstimmenanteile mit 17 % immer noch signifikant höher ausgefallen sind als in anderen Berufsgruppen.
Mit drei Wahlniederlagen im Rücken stand nur einen Monat nach NRW der Bundesparteitag an. Trotz Meuthens Abgang im Januar, war der Bundesvorstand immer noch in zwei Machtblöcke gespalten gewesen, wodurch die beiden Lager in Riesa den Showdown suchten.
Am Ende konnte sich Tino Chrupalla fast vollständig mit seiner eigenen Liste durchsetzen. Statt auf möglichst ausgeglichene Lagerrepräsentation, setzt der neue AfD-Bundesvorstand auf ein Team, in dem die konstruktive und effiziente Arbeitsatmosphäre im Vordergrund steht. Mit Namen wie Carlo Clemens und Dennis Hohloch bindet man schließlich auch proaktiv junge Akteure in das wichtigste Entscheidungsgremium der Partei ein. Von außen betrachtet schien sich das Innenleben der Partei nach der Vorstandswahl spürbar zu beruhigen. Mainstreammedien wurden nicht mehr als Mitteilungsplattform für persönliche Egokampagnen instrumentalisiert und erbitterte Lagerkämpfe sind bisweilen nicht zu vernehmen.
Schon kurz nach der Wahl war der Bundesvorstand gefordert, seinen ersten Arbeitsnachweis zu erbringen. Die Inflationskrise begann die unmittelbare Lebensrealität der Menschen zu erreichen und potenzierte sich durch die Unsicherheiten der Energieversorgung. Mit einer eigenen Kampagne wollte die Partei ein Zeichen der Aktivität setzen. Verbunden mit der konkreten Zielmarke einer eigenen Demonstration in Berlin wurde auch erstmals seit knapp vier Jahren wieder der Straßenprotest in das politische Kommunikationsmosaik integriert. Die Kampagne war intern als auch extern wahrnehmbar und konnte mit der Demonstration auf aktivierende Mobilisierungseffekte setzen. Ob das Motto und die visuelle Gestaltung gelungen sind, wollen wir an dieser Stelle nicht noch einmal ausführen und verweisen dafür auf unsere entsprechende Kampagnenanalyse.
Wenn auch nicht durch eine direkte Kausalbeziehung zur hauseigenen Kampagne, verschob sich auch das bundesweite Stimmungsbild in den Umfragen deutlich zugunsten der AfD. Die Partei kletterte auf bis zu 15 % und kann sich auch bis zum Jahresende von den stagnierenden Trends der letzten Jahre absetzen. Mit dem Thema Preissteigerungen, Inflation und Energiepolitik hat die AfD nun erstmals auch die Möglichkeit aus dem Bunker der „Einthemenpartei“ herauszukommen und das eigene programmatische Spektrum auch in der öffentlichen Breitenwirkung auszudehnen. Vor allem die Wirtschaftspolitik- und Sozialkompetenzwerte haben das Potential zu einer neuen Trumpfkarte zu werden.
Begleitet vom heißen Herbst konnte die AfD ihr Wahljahr mit einem beeindruckenden Ergebnis bei den niedersächsischen Landtagswahlen doch noch mit einem Erfolg abschließen. Mit einem zweistelligen Stimmenanteil von 10,9 % zeigt die Partei, dass sie unter günstigen Bedingungen schließlich auch im Westen auf ein zweistelliges Potential zurückgreifen kann. Besonders ist dies vor allem, weil dies in einer traditionell für rechtskonservative Parteien schwachen nördlichen Region wie Niedersachsen gelang. Auch in den INSA-Potentialanalysen, baute sich zumindest eine totale Ablehnungsfront auf nur noch 61 % ab. Im vorangegangenen Jahr lagen diese Werte noch bei bis zu 73 %. In den Bundesländern konnten sowohl in Ost als auch West Spitzenwerte erzielt werden. Gewiss mögen die externen Faktoren eine entscheidendere Rolle gespielt haben als die Performance der Partei. Für die Seele und Motivation an der Basis dürfte dieser Jahresabschluss aber ein wichtiger Befreiungsschlag aus einem Tief der letzten zwei Jahre gewesen sein.
Fazit:
Die AfD blickt nach 2022 auf eine lehrreiche Phase von zwei Jahren parteiinterner Konflikte, Wahlverlusten, Konsolidierungen und mühsamer Grundlagenarbeit zurück. Es ist gelungen, die erste Abwärtsmobilität und Stagnation in der Parteigeschichte durchzustehen. Dieser Prozess könnte sich in den kommenden Jahren noch als Anker für die wichtige Identitätsentwicklung bemerkbar machen. Die Partei weiß jetzt mit den Ambivalenzen von Erfolgen und Niederlagen umzugehen und kann diese Wissensressourcen nun in die notwendige Strukturierungs- und Professionalisierungsarbeit transferieren. Für 2023 ergeben sich dabei einige weitere Herausforderungen:
Die Diskrepanz des Erfolgs zwischen Ost und West ist keine Neuigkeit und auch über die simple Übertragbarkeit verschiedener Modelle eines Landesverbandes auf andere, macht sich niemand mehr ernsthafte Illusionen. Die AfD selbst funktioniert nur als Mosaik, in dem die Einzelteile (Landesverbände) mit unterschiedlichen Zukunftsfragen konfrontiert sind. So dürfte der Auftrag für die meisten Westverbände darin bestehen, über die nächsten Jahre die eigenen Fraktionen sichtbarer und präsenter zu machen und über Schwerpunktregionen beständige Community-Strukturen aufzubauen.
Der Osten wird womöglich eine generelle Schlüsselposition für den Gesamterfolg der Partei einnehmen. Nicht aufgrund seines Wähleranteils, der für bundesweite Wahlen von den schwächeren Ergebnissen im Westen neutralisiert wird, sondern aufgrund seiner symbolischen Wirkung. In Thüringen und Sachsen würde die AfD laut aktuellen Umfragen stärkste Kraft werden. In vereinzelten Regionen wachsen die Abstände zur direkten Verfolgerkonkurrenz. Selbst die CDU-Basis und mit ihr vereinzelte Lokalfunktionäre sind bereit, auf Konfrontationskurs mit ihrer eigenen Partei zu gehen. Die Debatten um konkrete Machtoptionen sind zumindest auf Gedankenspielebene auch in der Partei angekommen. Der erste Landrat, der erste Bürgermeister, die erste schwarz-blaue Koalition auf kommunaler Ebene dürfte in Sachsen oder Thüringen nur noch eine Frage der Zeit sein.
Nicht weil man dies als AfD um jeden Preis forcieren müsste, sondern weil die Kräfte des Faktischen diese Fragen als Möglichkeitsoptionen zwangsläufig in die Partei getragen werden. Sowohl in Sachsen als auch Thüringen dürfte es bei einem Halten der aktuellen Umfragewerte zu großen Schwierigkeiten von Mehrheitsbildungen gegen die AfD kommen. Dies muss einerseits als Chance als auch als Risiko gewertet werden. Die AfD benötigt darüber jedenfalls eine lebendige und offene Strategiedebatte.
Die AfD lebt von günstigen Themenkonjunkturen. Ähnlich wie einiger ihrer rechtspopulistischen Vorgängerparteien fällt es ihr schwer, Mobilisierungsakzente außerhalb ihrer Kernthemen zu setzen. In manchen wenigen Talkshowauftritten und Interviews zeigten sich selbst beim Spitzenpersonal doch an vielen Stellen Schwächen in der argumentativen Schlagfertigkeit. Es fehlte teilweise der entscheidende Wissensvorsprung gegenüber dem politischen Gegner. Die AfD ist gut darin einen politischen Standpunkt zu vertreten, aber die argumentative Verteidigung ist zum Teil schwach ausgeprägt. Man hat sprechfähiges Personal in den Fraktionen und Bundesfachausschüssen, aber gibt ihnen nur selten die Gelegenheit, sie dann auch kommunikativ und arbeitstechnisch in Szene zu setzen. Noch immer fehlt es an der staatlichen Mittelausstattung für die parteinahe DES-Stiftung, sodass die vorfeldpolitische Forschungs- und Bildungsarbeit stockt.
Projekte wie die Gegenuni versuchen, mit wesentlich geringeren Mitteln Surrogate aufzubauen, die als gezielte metapolitische Förderung bisher gar nicht berücksichtigt wurden. Die akademische Forschung reproduziert jeden Tag neue Studien und Arbeiten, mit hartem linkem und klassenkämpferischem Einschlag. Der AfD fehlen die Ressourcen und Zugänge in mögliche akademische Milieus. Hier muss 2023 ein neuer Fokus gesetzt werden, der im Worst-Case-Szenario eines weiteren Finanzierungsauschlusses der Desiderius Erasmus Stiftung auch andere vorfeldpolitische Alternativen berücksichtigt.
Jugend- und Vorfeldarbeit
Die Junge Alternative hat über die letzten beiden Jahre deutlich gemacht, dass sie ein Machtfaktor in der Parteimechanik sein kann und dies auch ihr Anspruch ist. Auf den Listenparteitagen werden junge Mitglieder immer selbstbewusster und haben inzwischen selbst parlamentarische Mandate inne. Es ist richtig, dass die AfD bei ihrer Personalauswahl zumindest versucht, stets nach Befähigungskriterien zu gehen. Doch allzu oft werden diese Debatten meist nur mit Lebenserfahrung und Alter verknüpft und nicht nach tatsächlicher politischer Talentierung.
Auf dem Bundesparteitag erkannte Alice Weidel richtig, dass die AfD eigene Medien und Kommunikationsinfrastrukturen benötigt, um zumindest für die Kernanhängerschaft öffentlich sichtbar zu bleiben. Dazu bedarf es künftig jedoch innovativerer Modelle als nur ein paar mehr Podcasts oder Zitatgrafiken in den sozialen Netzwerken. Modernes Politmarketing folgt nicht mehr strenger hierarchischer Ordnungen und eindimensionale Kommunikationsketten. Ideen wie Influencer Marketing, politisches Franchising, Microtargeting sind in hochprofessionellen amerikanischen Wahlkämpfen bereits an der Tagesordnung und erobern schrittweise auch den mitteleuropäischen Kampagnenmarkt. Dazu braucht es die Einbindung qualifizierter Vorfeldakteure, was nicht nur zum Selbstzweck dient, sondern sich auch an konkreten Erfolgsparametern messen lässt.