Strategische
Wahlforschung

Strategische Wahlforschung kann dabei helfen Kommunikationsprofile und programmatische Ausrichtungen von Parteien zu begleiten und unterstützen. Dazu braucht es jedoch auch ein Bewusstsein und einen Willen, die eigenen Zielgruppen nicht nur anhand vorgefertigter Prämissen zu analysieren.

Auch die AfD musste sich in den vergangenen drei Jahren mit ersten Wahlniederlagen und ernüchternden Ergebnissen arrangieren. In solchen Zeiten haben Ad-hoc-Wahlanalysen und Bauchgefühl-Erkenntnisse über das eigene Wählerprofil Hochkonjunktur. Eigene Sinneseindrücke vom Wahlstand oder Stammtischen ersetzen die nüchterne und ganzheitliche Analyse. Weltanschauliche Lager versuchen aus den Ergebnissen, die für sie passenden Erkenntnisse reduktionistisch herauszufiltern. Die subjektiven Erfahrungswerte aus den Wahlkreisen und in der Mitgliederarbeit werden dann zum Maßstab für das richtige Zielgruppenmanagement angelegt. Strategische Wahlforschung und Demoskopie stehen hierbei nicht selten im Konflikt mit den machtpolitischen und diskursiven Dynamiken innerhalb einer Partei. Die Parteiakteure nutzen dann Daten, Analysen und Studien meist zu instrumentellen Zwecken, um sich selbst oder die Position ihres eigenen Lagers zu stärken. Die Demoskopie ist somit immer auch ein innerparteiliches Machtinstrument.

Wahlforschung kann Strategieverfahren innerhalb einer Partei ergänzen und mit neuen Perspektiven bereichern, aber sie kann als eine zunächst neutrale Wissenschaft (idealisiert betrachtet) nicht strategische Fragestellungen und Richtungsentscheidungen vollends beantworten und ersetzen. Sie kann jedoch die Prozesse der Strategiefindung von Parteien oder Politikern durchaus sinnvoll begleiten, wenn man auch bereit ist, voraussetzungsvolle Prämissen und vermeintliche Gewissheiten zu hinterfragen. Somit kann die Wahlforschung eine gewisse Betrachtungsvielfalt in den Strategieprozess integrieren.

Wahlverhalten

Wahlverhalten ist heute umso mehr von individuellen Verhaltensdispositionen abhängig. Wo sich früher die Wählerschaften recht übersichtlich innerhalb fester sozialer Milieus und Parteiidentifikationen sammelten, ist heute die Volatilität der Wahlentscheidungen signifikant gestiegen.

Soziale Muster und Gruppenbildungen lassen sich selbstverständlich auch heute noch nachvollziehen. Faktoren wie die „Wechselwahl“ und „Nichtwahl“ treten in den modernen Parteisystemen jedoch gehäufter auf, als noch vor 40-50 Jahren. Die Wählerschaften in den westlichen Demokratien sind heute wesentlich entideologisierter und auch flexibler in ihren Entscheidungsfindungsprozessen. Dadurch kommt es häufiger zu simplifizierenden Fehldeutungen, dass beispielsweise die „Nichtwahl“ pauschal als Ausdruck einer gewissen Systemunzufriedenheit und Politikverdrossenheit interpretiert wird. Volatile Parteiensysteme neigen jedoch grundsätzlich auch zu höheren Nichtwählerquoten. Damit ist der Faktor der Politikverdrossenheit zwar nicht widerlegt, aber das Phänomen „Nichtwahl“ erhält eine zusätzliche Betrachtungsdimension, die zumindest in Ansätzen erklären kann, warum Nichtwähler auch nur ein begrenztes Mobilisierungspotential aufweisen, da ihre Häufung auch Folge strukturell veränderter Wählermilieus ist.

Diskrepanz zwischen Einstellung und Wahlverhalten

Ein weiteres viel untersuchtes Feld mit reichlich unterschiedlichen Erklärungsansätzen ist die Diskrepanz zwischen den eigenen ideologischen Überzeugungen oder rationalen Interessen und dem Wahlverhalten. Laut einer Meinungsumfrage von INSA sagen 51% der Deutschen, dass Deutschland zu viele Flüchtlinge aufgenommen hat und 45% sagen, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört. Die Partei, die diese Einstellungsprofile jedoch am glaubwürdigsten vertreten würde, repräsentiert jedoch aktuell nur zwischen 15-17% der Gesamtwählerschaft. Das Bild des rationalen Wählers, der über das Durchspielen von Wahl-O-Maten seine Entscheidung trifft, ist in der Wahlforschung bereits häufiger auf die kritische Probe gestellt worden. Kognitive Dissonanzen zwischen ideologischen Dispositionen und Wahlentscheidungsprozessen zeigen lediglich, dass die politische Umwelt nicht als abgeschlossene und lineare Systemlogik funktioniert.

Die Theorien des Wahlverhaltens integriert zahlreiche weitere Parameter wie die Sozialisation, geographische Lage, Lebenszyklen und Alterskohorten, Milieubindung oder auch ideologisch-kulturelle Einstellungskoordinaten. Dadurch kann die Bandbreite von individuellen Motivlagen selbstverständlich nicht vollständig abgebildet werden. Dennoch ermöglichen diese Ansätze die Herausbildung von gewissen Typologien und Mustern, die neue Erkenntniszugänge für strategische Prozesse und Kampagnenplanungen ermöglichen.

Die Strategiebildung von Parteien ist immer auch abhängig von der demoskopischen Landschaft, die sie umgibt. So ist der Umfragenmarkt in Deutschland besonders durch Momentaufnahmen und rein deskriptive Beschreibungen des „Status-Quo“ gekennzeichnet. Stimmungsbilder werden zwar dargestellt, aber die Frage nach dem „Warum“ eines bestimmten Trends nimmt in der Populärdemoskopie nur wenig Raum ein.

Politikerrankings

Dadurch können einerseits reichlich Hypothesen und Mutmaßungen in die Ergebnisse hineininterpretiert werden und zugleich ist kaum mehr zu unterscheiden, was tendenziell auf mediale Wirkungen und was sich aus originären Überzeugungen, sozialen Statuszugehörigkeiten oder langfristigen Überzeugungen der Befragten ableitet. So sind beispielsweise Politikerrankings und Beliebtheitsskalen demoskopische Messwerte, die kaum Aussagekraft haben. Die ausgewiesenen Politiker in diesen Listen sind zumeist auch jene, die jede Woche in Talkshows und Zeitungsartikeln auftauchen. Die Bekanntheit eines Politikers wird somit oft mit der Beliebtheit gleichgesetzt.

Wählerwanderungen

Auch Wählerwanderungen mögen am Wahlabend immer wieder auf großes Interesse stoßen. Für die strategische Ausrichtung der Parteien bleiben diese Bewegungen in der Wählerschaft jedoch irrelevant, wenn weder die Motive, Parteibindungen und das langfristige Wahlverhalten mit in die Untersuchungen einfließen. Durch die kurzfristigen Trendmessungen werden strategische Zielvorgaben für schnelle taktische Politmanöver geopfert. Dieser Zugang im operativen Parteigeschäft verzerrt und verfälscht oft den Blick auf die eigenen Zielgruppen. Die Mainstream-Meinungsforschung ist für die Strategiebildung einer Partei viel zu reduktionistisch. Sie kann Mobilisierungspotentiale nur abstrakt und oberflächlich messen.

 Jede Partei charakterisiert sich durch vier zentrale Wählergruppen:

1. Feste Stammwähler

2. Eigene Wähler mit geringer Parteibindung, die gehalten werden müssen.

3. Eigene Wähler, die einen Aktivierungsimpuls brauchen, um tatsächlich zur Wahl zu gehen.

4. Unentschlossene Wähler, die überzeugt werden müssen.

Die Potenzialgrößen dieser Gruppen können erst durch die Differenzierung, Clusterbildung sowie die soziodemographische, kulturelle und ökonomische Merkmalsidentifikation bestimmt werden. Die strategische Wahlforschung kann hierbei helfen, indem sie Langzeitanalysen, multiple Einstellungsparameter, Fokusgruppen und viele weitere Instrumente in die Betrachtungen integriert.

Wie alle anderen politikwissenschaftlichen Subkategorien ist auch die Wahlforschung einem zumeist linken Bias ausgesetzt. Die AfD wird langfristig nicht umhinkommen, auch eigene Erhebungsinfrastrukturen für Daten, Meinungsumfragen und Panels aufzubauen. In den USA werden in die Partei- und Kampagnenapparate schon seit Langem eigene organisatorische Abteilungen integriert, die Meinungsforschungsergebnisse sichten, auswerten, beurteilen und analysieren sowie potenzielle Datenquellen über vernetzte Strukturen mit den Campaignern vor Ort identifizieren und neu erschließen. Strategische Wahlforschung sollte daher nicht nur mit einer Abteilung ausgestattet sein, die den ganzen Tag Excel-Tabellen auswertet, sondern muss bis in die Kreisverbandsebenen sowohl datenspezifische als auch subjektive Erfahrungswerte sammeln. Die Kombinatorik der unterschiedlichen internen und externen Datenquellen von Infoständen, Haustürwahlkämpfen, Meinungsumfragen, Wahlergebnissen, Geodaten und vielem mehr schafft schließlich ein ganzheitliches Bild von der eigenen Wählerschaft.

Dafür muss in der Partei jedoch auch ein Wille und eine Bereitschaft gegeben sein, verfestigte Muster in der Hypothesenbildung aufzubrechen und sich einer politikwissenschaftlichen Analytik zu öffnen. Die Partei braucht ein Bewusstsein dafür, dass die intensive Zielgruppenforschung den Grundstein für alle weiteren strategischen Grundsatzentscheidungen von der kommunikativen Tonalität bis hin zur programmatischen Ausrichtung legt. Die strategische Wahlforschung mag in diesen Fragen womöglich keine letztgültigen Antworten liefern. Sie bietet jedoch ein offenes Analyseinstrument, womit sich Prämissen sezieren, aufschlüsseln und hinterfragen lassen. Sie kann den Präzisionsgrad zur Identifikation neuer Zielgruppenpotenziale stets erhöhen und dabei entsprechende Cluster für differenzierte Ansprachen herausbilden. Letztendlich liegt es aber in den Händen der parteipolitischen Entscheidungsträger, ob dieser Professionalisierungs- und Organisationswille vorhanden ist oder ob man weiter auf einen rein kurzfristigen taktisch-operativen Habitus in der Wahlkampf- und Kampagnenführung setzt.

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