Aufstiegsbedingungen
der AfD

Wertekonflikt oder Folge der neoliberalen Zersetzung? Konservatives Repräsentationsvakuum oder autoritärer Charakter? Die Deutungen rechten Wahlverhaltens haben in der Politikwissenschaft eine Reihe von verschiedenen Theorien und Modellierungen hervorgebracht. Um jedoch auch die subjektiven Tiefenstrukturen und längeren Entwicklungslinien nachzuvollziehen, müssen wir auch die sozialen Transformationen, Brüche und Übergänge von der alten mittelständischen Industriegesellschaft hin zu kreativen und postmateriellen Wissensökonomie verstehen. Nachfolgender Artikel gibt dazu eine Übersicht.

Der Aufstieg der AfD gilt bis heute als ein Novum in der bundesrepublikanischen Parteiengeschichte. Über die Ursachen und Bedingungen dieses Erfolges gibt es in der politikwissenschaftlichen Forschung bereits eine Reihe von Erklärungsansätzen, die sowohl neue und innovative Modelle beinhalten als auch an die alten stereotypen Muster aus früheren Wahlerfolgswellen von Parteien rechts der CDU anknüpfen. Häufig neigte insbesondere die Wahlsoziologie dazu, reine empirisch-messbare und objektivierbare Kriterien festzulegen, die rechtes Wahlverhalten als Systemfehler an den gesellschaftlichen und ökonomischen Randzonen identifizierten. Die Sozialstruktur rechter Parteien würde sich demnach zuvorderst aus den prekarisierten Abstiegsschichten rekrutieren, die ihre eigene individuelle Lage in einen politischen Protestakt projizieren. In den 2000er-Jahren konnte sich dieses Bild mit den Wahlerfolgen von Parteien wie der NPD und der DVU im Osten immer wieder bestätigen lassen.

Doch das Auftreten der AfD hat einer rechtskonservativen Partei schlussendlich auch die Zugänge zu den mittleren (bürgerlichen) Gesellschaftsklassen eröffnet, die nicht von unmittelbaren Prekariatsbedingungen betroffen waren. Stets versuchte die nach wie vor von marxistischen Denktraditionen geprägte deutsche Soziologie, die Erfolge der AfD als eine neue klassenkämpferische Frage zu deuten. Dort, wo die Sozialdemokratie über ihre Regierungszeiten in den 2000er-Jahren eine zuvorderst neoliberale Politik betrieben hätte, entstanden politisch-repräsentative Leerstellen, die die Voraussetzungen für eine neue politische Raumarchitektur in der bundesdeutschen Parteienlandschaft boten. Das Ganze wurde schließlich mit der klassischen linken Lesart vom „autoritären Charakter“ Adornos angereichert, um zumindest eine theoretische Ausgleichsinstanz parat zu haben, die die Attraktivität der AfD auch in gehobenen Sozialschichten erklären konnte.

Die etwas konservativere Lesart ging schließlich von einer eher Sachthemen- und programmatikbezogenen Motivation aus, die sich auf das von den Unionsparteien hinterlassene Vakuum des konservativen Geistes bezog. Demnach entfalte die CDU keine Bindungswirkung mehr gegenüber ihren konservativen Milieus, wodurch diese sich ohnehin schon länger in einer parteipolitischen Suchbewegung nach Alternativen befanden.[1]

All diese Modelle haben gemeinsam, dass sie durch die komplexen Ausdifferenzierungen der modernen sozialen Systeme immer auch schon einen Reduktionismus enthalten, der das Wahlverhalten nicht abschließend und vollumfänglich erklären kann. Parteiidentifikationen sind fragiler und fluider geworden. Scharfe Konturlinien zwischen den Parteien nehmen ab und die soziale Mobilität zwischen den Milieus ist wesentlich dynamischer geworden. So reicht es nicht mehr aus, anhand vereinzelter Stimmungsbilder und Momentaufnahmen einen standardisierten politischen Raum nachzuzeichnen. Wahlverhalten erklärt sich durch eine Vielzahl von sozialpsychologischen Modellen und immer größere Varianz emotionaler Entscheidungsmuster.

Aus diesem Grund können wir auch den Aufstieg der AfD nicht nur als einen Zufallsmoment der Geschichte beschreiben, der sich aus irgendwelchen monokausalen Entwicklungslinien abgezeichnet hat. Es sind vielfältige Kontexte, soziale Zwischenbeziehungen und geschichtliche Kontinuitäten, die sich womöglich weit vor dem Entstehen dieser Partei abgezeichnet haben.

Die nivellierte Mittelschichtgesellschaft

Seit 1945 schaffte es die Bundesrepublik Parteiprojekte rechts der Union stets abgeschlossen und isoliert zu halten. Die politische Kultur glich sich schnell an eine nivellierte und gleichförmige Mittelschichtsgesellschaft, die das neue Ordnungszentrum für Stabilität, Sicherheit und Wohlstand gewesen ist. Die beiden Volksparteien SPD und CDU konnten bis auf wenige Ausläufer sowohl die Mitte als auch die politischen Ränder zuverlässig integrieren.

Die alte BRD konnte ein konstantes Wohlstands- und Aufstiegsversprechen bieten, was ein neues breites Spektrum des Bürgertums herausbildete. Erstmals konnte sich auch die einfache Arbeiterschaft materielle Lebensträume erfüllen. Der erste Fernseher, Urlaubsreisen, eigenes Familienauto und Eigenheim. Wer ab 1940 geboren wurde, konnte die Kontinuität eines beständigen Wachstums und Aufstiegs bis in das späte Erwachsenenalter mitverfolgen. Der Soziologe Helmut Schelsky prägte das theoretische Konzept der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ in der die alten Klassenprägungen eines harten und gegensätzlichen Interessenkampfes zwischen der Ober- und Unterschicht aufgehoben werden und durch eine neue Sozialstruktur einer sowohl ökonomisch als auch gesellschaftlich an die Mitte orientierten Ordnung ersetzt wurden. Dadurch entwickelte sich in nahezu allen Lebensformen eine gewisse Vereinheitlichungstendenz, die sich schließlich in ähnlichen Konsumgewohnheiten, gleicher sozialer Stellung als aber auch einer immer stärker konsensual ausgerichteten politischen Kultur widerspiegelten.

Die von Ludwig Erhard geprägte Formel der sozialen Marktwirtschaft vom „Wohlstand für alle“ war das Motto einer ganzen Generation, in der die Klassengegensätze und Kontraste durch eine wachsende und stabile Mittelschicht neutralisiert wurden. Dieser sozioökonomische Rahmen und dieses Lebensgefühl zeigte sich schließlich in einem parteipolitischen Angebot und einer Wählermobilisierung, welches nicht mehr in einer klaren dichotomischen Links-Rechts Spaltung gegliedert ist, sondern die „bürgerliche Mitte“ als eigenständigen und neuen politischen Ort definierte, der sich gegenüber extremen Polarisierungen zuverlässig immunisieren konnte.

Wertewandel und Bildungsexpansion

Ab den 1980er-Jahren beginnt sich das soziale Aufstiegsversprechen jedoch langsam aufzulösen. Zwar bleibt bis heute die objektive Lage der Mittelschicht recht robust und stabil, aber wir erleben eine zunehmende Ausdifferenzierung und gesellschaftliche Neuverhandlung über Prestigestellungen und Statuspositionen.  Die ab 1980 einsetzende Bildungsexpansion bewirkte eine massive Ausdehnung der akademischen Abschlüsse und prägte den Übergang von der Industriegesellschaft zur Informations- und Wissensökonomie. Die alte Industriearbeiterschaft hatten in der frühen BRD eine identitätsstiftende Funktion für die Mittelschicht. Vom „einfachen Werktätigen“ bis zu den Facharbeitern ergaben sich die Bindemittel, die einen gemeinsamen Zugehörigkeitskonsens ausmachten, der die Grundlage des schrittweisen Wohlstandsaufbaus und aufwärtsmobiler Statuslagen bildeten.

Das Panorama der Tugenden aus Fleiß, Strebsamkeit und auch einer gewissen Lebensbescheidenheit wurde durch das Aufkommen eines akademisierten und postmateriellen Milieus zunehmend entwertet. Die gesellschaftlichen Prestigehierarchien wurden neu geordnet und nicht mehr von der klassischen Arbeiterschicht dominiert. Innerhalb der letzten Jahrzehnte ist der Anteil der „Arbeiter“ um mehr als die Hälfte zusammengeschrumpft. Nicht mehr die traditionellen Verwurzelungen in der Heimat, Region, Familie und Berufsstand schufen das kulturelle Kapitel, sondern die Fortschrittsfanatiker und Kosmopoliten in einer neuen globalisierten Welt. Die mit der Mittelschicht eng verwobenen Institutionen wie Kirchen oder Gewerkschaften verloren an Relevanz und Integrationskraft, wodurch die einfache Mittelschicht bis heute kaum mehr verbindende Stabilitätsanker und Fundamente hat. Es fehlte das identitäre und gesellschaftliche Leitbild, das soziale Statusanerkennung und das frühere Aufstiegsversprechen einlösen konnten.

Die gesellschaftlichen Ordnungsgaranten, die über die Mittelschicht vermittelt wurden, befinden sich bis heute in einem stetigen Auflösungsprozess. An die Stelle des klassischen Arbeitersubjekts als gesellschaftliche Trägergruppe trat ein neues Kreativsubjekt mit exzentrischem Lebensstil, dass die alte Struktur der Pflicht- und Akzeptanzwerte infrage stellte und mehr Wert auf die individualistische Selbstentfaltung legte. Sie eroberten die kulturellen Schlüsselpositionen und konnten somit neue ideologische Prämissen und Lebensbilder in die Diskurse transportieren. In der Arbeitswelt standen sich zwei diametrale Gegensatzpaare gegenüber. Einerseits die Produzenten kreativer und immaterieller Wissens- und Informationsgüter, die mit guten Statuspositionen und ausreichenden Bildungs- und Kulturkapital ausgestattet sind und andererseits die traditionellen Industrie- und Facharbeiter im produzierenden Gewerbe mit einfachen Bildungsabschlüssen und mittleren Einkommen, die von sozialen Status- und Geltungsverlusten sowie kultureller Desintegration betroffen sind.

Somit müssen wir die Erfolgswellen rechtspopulistischer Parteien in ganz Europa auch als einen kollektivpsychologischen Bruch lesen, der sich in den Übergängen und Transformationen der postindustriellen Gesellschaften manifestiert. Diese Entwicklung bezieht sich nicht nur auf materielle Abstiegstendenzen oder die Zunahme von Prekarisierung und Armutserfahrungen. Sämtliche Langzeitstudien- und Befragungen zeigen, dass sich das konkrete ökonomische Lagebild der Mittelschicht über die letzten Jahrzehnte recht stabil gehalten hat.

Der von Soziologen und Ökonomen viel beschworene „Abstieg der Mittelschicht“ lässt sich als ein realwirtschaftliches Faktum in der Empirie nicht nachweisen. Dennoch konnte die soziologische Forschung über die letzten Jahre in Tiefeninterviews und qualitativen Studien emotionale Lebenswelten einer von Unsicherheit, Unbeständigkeit und des Statusverlustes geprägten Mittelschichten identifizieren. Wenn auch die objektive wirtschaftliche Lage keine signifikanten Abstiege feststellen konnte, so sind subjektives Unbehagen und vor allem kulturelle Sorgenprofile im Zeitverlauf der letzten Jahrzehnte stark angestiegen. In der Bundesrepublik kann das rechte Wahlverhalten demnach auch als eine verspätete Gegenbewegung der alten Mittelschichten gegen die postindustriellen Kosmopoliten gedeutet werden. Die 2000er-Jahren zeigen noch am ehesten die Brüche bezüglich Abwärtsmobilität und Abstiegssorgen der Mittelschicht. Es gab jedoch kein äquivalentes politisches Repräsentationsangebot, welches eine entsprechende Interessenpolitik dieser vergessenen sozialen Klassen hätte artikulieren können.

Verschiebung der sozialen Koordinaten

Die bürgerlichen Mittelschichtskoordinaten sind fragmentiert und entrückt. Berufliche Biographien weisen heutzutage wesentlich mehr Betriebsstationen auf als früher. Traditionelle Familien- und Rollenverständnisse wurden entwertet. Einfache Bildungsabschlüsse limitieren die beruflichen und sozialen Aufstiegschancen, in einer Zeit, wo immer mehr Akademiker in die Arbeitsmärkte drängen. Multiple Identitätsentwürfe werden zur neuen Norm und drängen die Bedürfnisse nach Ordnung, Sicherheit, Orientierung und Identitätsbildung nach innen zurück.

Generell taugt für die liberale Elite die alte bürgerliche Lebenswelt der alten Mittelschicht nur noch als Auslaufmodell und anzugreifendes Objekt der linken Transformationen. Auch der kulturelle Konsens reproduziert sich nur noch innerhalb eines politisch korrekten Paradigmas. Somit nehmen die alten Mittelklassen die öffentliche Sphäre und den Kulturbetrieb nur noch mit Befremden und Unbehagen wahr. Der neue Linksliberalismus setzt beständig neue Energien für hybride Kultur- und Lebensentwürfe frei, in denen die Orientierungen und Ordnungen der traditionellen gesellschaftlichen Institutionen wie Nationalstaat, Familie, Heimatregion und klassische Erwerbsarbeit in nahezu unendliche Beziehungsgeflechte gesetzt werden können, denen es aber an einer konkreten identitären Leitidee und Verwurzelung fehlt.

Die Tiefenstruktur rechten Wahlverhaltens 

Vor dem Hintergrund dieser soziologischen Geschichte der BRD, war die Migrationskrise 2015 womöglich auch nicht einfach nur eine spontane Stimmungserregung, sondern Ausdruck eines plastischen Bildes in dem die ganzen transformativen Brüche, kulturellen Entgrenzungen, Abwertungen traditioneller Lebensentwürfe der letzten drei Jahrzehnte kulminierten. 2015 war das Ergebnis einer langen Entwicklungslinie und das konkrete politische Mobilisierungsereignis, wo aus einem latenten Gemütszustand schließlich ein politischer Wille und Interessen erwachsen sind. Es war die brachiale Konfrontation mit einem neuen, entgrenzten Kulturverständnis. Dadurch wurde die liberale Migrationspolitik als eine zusätzliche Bedrohung der eigenen Statuspositionen verstanden. Das Experiment der multikulturellen Gesellschaft ist damit eine Überdehnung der letzten kulturellen und identitären Ressourcen gewesen, die einen zwangsläufigen politischen Abwehrreflex hervorriefen, um die verbliebenden Fragmente der eigenen Lebensmodelle zu erhalten.

Manche linke Beobachter hofften, dass eine Beruhigung der Migrationskrise auch die rechtspopulistischen Bewegungen in ganz Europa neutralisieren würde. Gewiss mögen die Flüchtlingswellen als politische Katalysatoren gewirkt haben, aber der eigentliche Erfolg des Rechtspopulismus schöpft aus anderen tiefenstrukturellen Ebenen als Folge der postindustriellen Gesellschaftstransformationen. Der Rechtspopulismus ist Ausdruck kulturalisierter Wertekonflikte, wofür die herkömmlichen Erklärungsschablonen vom abgehängten Prekariat, xenophober Mentalitäten oder dem autoritären Charakter unzureichend geworden sind. Die wahrgenommenen Deklassierungen sowie habituellen und sozialen Abstiegsbedrohungen sind keine wahnhaften Imagination und Trugbilder, sondern reale Verschiebungen der sozialmoralischen Machtblöcke innerhalb der bundesrepublikanischen Mittelschicht.

Vielmehr zeigen die meisten qualitativen Studien das Bild einer gewissen Zukunfts- und Modernisierungsskepsis. Der symbolische Kampf um die gesellschaftlichen Statuspositionen und das kulturelle Kapital wird innerhalb der rechtspopulistischen Bewegungen zu einer neuen politisierten Konfliktebene. Zahlreiche Studien haben diesen Prozess als eine große „Backlash-Bewegung“ beschrieben, wonach sich als Folge des sozialen Progressivismus eine zeitversetzte Gegenbewegung bildete, deren Abwehrreaktionen sich durch zusätzliche berufliche und soziale Unsicherheiten nochmals potenzierte.

„Früher war alles besser.“

 Dies führt jedoch auch zu dem Dilemma der rechtspopulistischen Parteien, dass sie lediglich eine regressive Verteidigungslinie aufbauen können, welche eher an nostalgische Erwartungshorizonte einer früheren besseren Zeit anknüpfen, anstatt echte Zukunftsvisionen und programmatische Alternativen zu formulieren. Auch wenn es im vorpolitischen Raum des rechten Lagers immer wieder Warnungen gibt, nicht einfach nur die Politik- und Lebensmodelle der 70er-Jahre BRD zu übernehmen, so scheint sich die habituelle Sehnsucht der Wähler und Sympathisanten rechtspopulistischer Parteien genau mit dieser Zeit zu identifizieren.

Der moderne Konservatismus war in der Vergangenheit immer nur ein inhaltliches Rückzugsgefecht vor den soziokulturellen Zersetzungsprozessen linker Fortschrittsideen. Die rechtspopulistischen Programmatiken müssen also stets einen Spagat zwischen den teilweise vergangenheitsbezogenen Erwartungen ihrer Anhänger und einer gleichzeitigen zukunftsorientierten Politikfähigkeit managen.

[1] Patzelt, Werner J. “„Repräsentationslücken“ Im Politischen System Deutschlands? Der Fall PEGIDA.” Zeitschrift Für Staats- Und Europawissenschaften (ZSE)

Social Media

Newsletter