Mythos und Chiffre
Als die Grünen zur Bundestagswahl 2021 ihre Kampagne starteten, lagen sie bei etwa 20 % in den Umfragen und hatten die selbstbewussten Ambitionen tatsächlich in das Kanzleramt einzuziehen. Den Wahlkampfstrategen war jedoch klar, dass 20 % + X nicht allein mit der traditionellen Stammklientel grüner Wählerschaften zu erreichen sind. Um die Wahl zu gewinnen, war für die Kampagnenplaner klar, dass die Grünen vorwiegend das Bürgertum und die Mitte-Milieus adressieren müssen. Das hieß, den programmatischen Kern und die politischen Forderungskataloge möglichst anschlussfähig zu halten und wenig Reibungsfläche zu bieten. Exemplarisches Beispiel dafür war der offizielle Wahlwerbespot, der durchaus gewöhnungsbedürftig war und für einiges Gelächter sorgte, doch in seiner Aufmachung, seine Bildsprache und der musikalischen Idee auf das Mobilisierungsziel in der bürgerlichen Mitte abgestimmt war. Im Endergebnis landeten die Grünen sicherlich unter ihren Erwartungen, was aber unter anderem auf eine negative Gemengelage rund, um ihre Spitzenkandidatin Baerbock zurückzuführen war.
Die bürgerliche Mitte wird immer umkämpfter und die strategischen Neuausrichtungen der Grünen zeigen, dass den Parteien der Raum ihrer traditionellen Klientel- und Stammwählerschaften zu eng geworden ist. Als es früher noch die klassischen Milieuzuordnungen gab und gesellschaftliche Gruppen groß und homogen genug waren, um aus ihnen relevantes politisches Mobilisierungskapital zu schöpfen, ist heute der Partei- und Wählerwettbewerb deutlich differenzierter und individualisierter geworden. Während in der alten Bundesrepublik Kirchen- und Arbeitermilieus parteipolitisch fest positioniert waren, kam es Ende der 90er-Jahre zu einer sukzessiven Auflösung und Abschmelzen der großen ideologischen Konflikte und die Parteien orientierten sich fortan an der sogenannten „politischen Mitte“. Die Mitte ist zur Chiffre für den anpassungsfähigen Durchschnittswähler ohne größere ideologische Überzeugung oder Parteibindung geworden.
Es ist der politische Ort, an dem die gesellschaftliche Stabilität und die Immunität gegen linke und rechte Experimente zum Ausdruck kommt. Der politische Mitte-Trend wird schließlich auch als Tendenz beschrieben, der die zunehmende programmatische Ununterscheidbarkeit der großen Volksparteien darstellt, die auf die großen Konfliktfragen verzichten und ihren Wählern daher nur blumige Versprechungen ohne viel Polarisierungspotential unterbreiten. Die Mitte ist zur machtpolitischen Schlüsselressource geworden und möglicherweise auch die Schwelle des durchschlagenden politisch-elektoralen Erfolgs. Für die Unionsparteien war die Mitte-Orientierung faktisch ihr Gründungsmythos gewesen, über den sie sich sowohl als Angebot aller konfessionellen Strömungen und der Schichten des Bürgertums verstand und dabei in der Lage konservative, liberale und rechte Wählerschaften zu absorbieren. Und auch die SPD prägte zu ihrer erfolgreichen Bundestagswahl 1998 den Claim der „Neuen Mitte“ und entledigte sich damit in den Folgejahren zunehmend ihrem Profil als reine Arbeiterpartei.
Die Mitte ist kein monolithischer Block, der anhand eines festgelegten Kriterienkatalogs bestimmt werden könnte. Es gibt kein einheitliches sozioökonomisches oder demographisches Profil. Vielmehr ist die Mitte Ausdruck einer politischen Kultur geworden, die nach Zentrierung, Balancierung und Ausgleich strebt.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Mitte auch permanent eine konstante politische Einstellungsgröße sei. Ihre gesellschaftliche Stabilisierungsfunktion darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass gesellschaftliche Entwicklungen dennoch stattfinden, deren Ideen und moralische Paradigmen dann von den bürgerlichen Mitte-Milieus übernommen werden. Die Mitte muss demnach eher als Machtstütze begriffen werden und weniger als Erzeuger und Produzent dieser Macht. Dadurch verändern sich innerhalb des Mitte-Raumes auch Gewissheiten und Einstellungen, die Jahre zuvor noch als randständig betrachtet wurden. Insoweit eine Art Schutzhülle der Macht. Ideen und politische Forderungen werden immer dann als wirksam betrachtet, wenn sie auch innerhalb der Mitte-Milieus entsprechende Resonanz finden.
Für die AfD sind mit der „bürgerlichen Mitte“ zahlreiche strategische Fragestellungen verbunden, die die Partei schon länger beschäftigen. Einerseits stehen jene, die die ideologischen Konflikte und Brüche zuspitzen wollen und von diesem Standpunkt die Mitte mitziehen wollen. Die andere Seite sieht in der AfD erstmalig ein erfolgreiches parteipolitisches Projekt rechts der Union, welches die Barrieren zu den Mitte-Milieus erfolgreich durchbrochen hat und die Anschlussfähigkeit bewahren will.
Dies ist Ausdruck einer Differenz zweier Pole mit unterschiedlichen Vorstellungen und Erwartungen an die bürgerliche Mitte. Für die einen ist sie Ausdruck des politischen Mainstreams. Das Establishment ist selbst über die konservativen und liberalen Akteure auf die Gegnerschaft zur AfD konditioniert. Die Identifikation einer dezidiert rechtskonservativen Elite mit Verbindung in die Milieus der politischen Mitte fällt heute zunehmend schwerer. Konservativ-bürgerliche Dissidenten im Mainstream halten gegenüber der AfD ausreichend Sicherheitsabstand, um die letztverbleibende Relevanz ihrer Sprecherposition nicht zu gefährden. Der bürgerliche Konservatismus sendet seine Botschaften in einen Raum, in dem er keine parteipolitische Repräsentation und öffentliche Resonanz mehr findet. Man kann dies bedauern, aber es sind die realen Machtstrukturen in der aktuellen Bundesrepublik.
Der sogenannte „liberalkonservative Flügel“ der AfD, sieht diesen Umstand jedoch als Defizit an dem gearbeitet werden müsse und sich die Partei somit personell, als auch programmatisch allem entledigen sollte, was die Korrespondenz zwischen einer bürgerlichen Öffentlichkeit und AfD blockiert. Wie genau dies zu erreichen sein soll, bleibt aber in den Strategiedebatten meist offen.
Es ist inzwischen reichlich dargelegt, welche Wählerschaften die AfD in den letzten Jahren mobilisieren konnte und wie sich ihre Stammwählerschaft schwerpunktmäßig ökonomisch, demographisch und geographisch zusammensetzt. Dennoch muss die AfD mit Blick auf die Strategiedebatte zur bürgerlichen Mitte die interne Kampfrhetorik abrüsten und nüchtern den Blick darauf werfen, inwieweit sich für sie Mobilisierungspotentiale innerhalb der bürgerlichen Mitte ergeben.
In dem bekannten Sinus Modell wird die bürgerliche Mitte als Milieu klassifiziert, dass um Status und Stabilität bemüht ist und stets um Anschluss an die herrschenden Konventionen und den ökonomischen Wohlstand bemüht ist. Die Lebenswerte sind auf Kalkulierbarkeit, familiäre Harmonie, Ordnung und berufliche Sicherheit ausgerichtet. Dennoch sieht sich die bürgerliche Mitte zunehmend unter Druck und droht an vielen Stellen ökonomisch als auch kulturell zurückgewiesen zu werden.
Schaut man auf die Wahlergebnisse zur Bundestagswahl 2017 in den einzelnen Milieus, so fällt auf, dass die AfD insbesondere in den prekären Milieus, aber auch der bürgerlichen Mitte am stärksten abschneiden konnte. Die AfD konnte in der bürgerlichen Mitte ein überdurchschnittliches Ergebnis von 20 % einfahren und damit die bisherige Dominanz der Unionsparteien innerhalb dieses Milieus brechen, die hier knapp 15 % an Wählern verloren, während die AfD 15 % im Vergleich zu 2013 hinzugewann.
Da die Verluste und Gewinne der restlichen Parteien in diesem Milieu recht moderat ausfallen, kann man durchaus von einer umfassenden Wanderungsbewegung von Unionswählern zur AfD ausgehen. Angela Merkel, die die CDU zur unangefochtenen Kraft der bürgerlichen Mitte profilierte, musste in einem der Kernmilieus der Christdemokraten die stärksten Verluste im Vergleich zu allen anderen Milieus hinnehmen.
Dies zeigt, dass die AfD auf die bürgerliche Mitte eine gewisse Attraktivität ausstrahlt und es ihr gelingen kann, den frustrierten und enttäuschten Teil dieses Milieus auch zu mobilisieren. Für einen präziseren Blick auf das Verhältnis von AfD und bürgerlicher Mitte, sollte eine weitere Beobachtungsebene in Bezug auf die politischen Verortungen der Wähler und der Selbsteinordnung der AfD integriert werden. Zusätzlich hilft ein Blick auf die alternativen Wahlpräferenzen AfD-Wählern und „Nicht-AfD-Wählern“. Die Aussagekraft jener Modelle sind zwar begrenzt, da sie zu sehr von individuellen Einschätzungen abhängen, aber sie geben ein Gespür für den strategischen Umgang mit politischen Koordinatensystemen und könnten unerschlossene Mobilisierungspotentiale identifizieren.
Zunächst wird in den meisten Studien deutlich, dass sich die AfD als Partei als aber auch ihre Wähler rechter der Mitte einordnen als die Konkurrenz. Dennoch gibt es auch unter den AfD-Anhängern nur eine Minderheit, die sich selbst als „weit-rechts“ einstufen würde.
Ein Blick auf den zeitlichen Verlauf nach der Links-Rechts-Selbsteinstufung nach Parteianhängern zeigt, dass AfD-Anhänger in Westdeutschland sich heute als weniger weiter rechts einstufen als CDU-Anhänger der 70er und 80er-Jahre. Bis zur Gründung der AfD lagen die CDU-Anhänger auf einem ähnlichen Niveau, wie die heutigen AfD-Anhänger. Erst das Jahr 2013 schuf offensichtlich einen schärferen Abgrenzungsdruck nach rechts, der bei fast allen Parteien eine stärkere Linksverschiebung zur Folge hatte.
Das zeigt, dass die CDU der 80er-Jahre vielleicht kein zukunftspolitisches Angebot für die AfD-Wähler ist, aber für manche Wähler im Westen ein Sehnsuchtsort ist, der auf die AfD projiziert wird. Selbstverständlich kann dies aber nicht politisch zur Folge haben, an dieser Stelle auch die CDU-Programmatik der 80er-Jahre inhaltlich zu kopieren. Aber es muss in Rechnung gestellt werden, dass der durchschnittliche AfD-Wähler zwar grundsätzlich frustriert und unzufrieden ist, aber für größere revolutionäre Würfe nur schwer zu erreichen sein wird. Mit Blick auf die generelle Trendentwicklung der Links-Rechts-Einstufungen sehen wir ab den 80er-Jahren eine Entwicklung, in der die Gesellschaft zunehmend nach links wandert und sich schließlich auch bei den regionalen Gegensätzen wieder in der Mitte trifft.
Anhand dieser Daten sehen wir einerseits grundsätzliche Linksverschiebungen in der bundesrepublikanischen Gesellschaft und selbst an den rechten Randzonen einen Zug zur Mitte, der die scharfen Polarisierungsspannungen scheinbar aufzulösen scheint. Das dürfte zunächst widersprüchlich erscheinen, denn der Abgrenzungsdruck nach rechts ist grundsätzlich größer geworden, während die Rechte in der parteipolitischen Repräsentation der AfD bereits einen besonders hohen Organisationsgrad entwickelt hat, der ihr trotz aller Schweigespiralen eine permanente öffentliche Präsenz ermöglicht.
Das wachsende und stärker wahrgenommene Angebot rechts der Mitte, führt also offenkundig nicht zu einem „Rechtsruck“, wie linke Schreiberlinge immer wieder gerne illusionieren, sondern selbst unter den rechten Anhängern zu einer stärkeren Mitte-Positionierung. Dennoch ist dieser Mitte-Rechts-Raum kaum mehr von den anderen Parteien belegt. Die großen Potenzialbrocken liegen für sie im Mitte-Links Raum.
Die AfD steht also eigentlich vor strategisch günstigen Ausgangsbedingungen, dass keine Partei mehr die Wählerfelder rechts der Mitte bedienen will. Sie hat einen recht breiten Potenzialraum, der in der politischen Verortung auch für FDP und CDU-Wähler interessant und anschlussfähig werden könnte. Man muss jedoch auch hier illusionsfrei bleiben. 25 % der CDU-Anhänger würden in der Zweitwahlpräferenz für die Grünen votieren, jedoch nur 4 % für die AfD. Dennoch könnten sich 23 % der AfD-Anhänger vorstellen, alternativ für die CDU zu votieren.
Die CDU scheint sich also bereits ihrer konservativen Wählerschaften entledigt zu haben und diese der AfD überlassen. Strategieanalysen innerhalb der CDU und CSU haben schon länger gezeigt, dass die Unionsparteien willfährig ihre rechten Vorposten aufgeben und stärker auf die linke Mitte abzielen. Das Wählerpotential jener, die bspw. sowohl Sympathien für die CSU und die AfD haben, liegt laut Demoskopen bei gerade einmal 5 %. Dies zeigt aber auch, dass die Potentiale für die AfD hier noch nicht erschöpft sind. Sie darf keine zu breiten Distanzen zu den mäßig rechts eingestellten FDP- und CDU-Milieus aufbauen und muss zugleich ihr Alleinstellungsmerkmal als repräsentative Kraft rechts der Mitte aufrechterhalten. Das ist ein Balanceakt, der weder radikale Abgrenzungsverschärfungen noch Mainstream-Anbiederung erforderlich macht.
Die Zusammensetzung der AfD-Wählerschaft ist mit Sicherheit auch Ausdruck einer neuen rechten Protest- und Widerstandskultur. Ihre Anhänger sind gegenüber anderen Parteien am wenigsten wechselbereit und weisen in allen verfügbaren Daten die höchsten Wut, Frustrations- und Unzufriedenheitswerte auf. AfD-Anhänger verbinden mit ihrer Partei hohe Erwartungen für grundsätzliche politische Veränderungen.
Dennoch muss stets berücksichtigt werden, dass tatsächlich revolutionäre Umwälzungen und systemische Fundamentalerneuerungen nicht dem emotionalen Wesenskern der AfD-Wähler entsprechen. Die Abneigung gegen das herrschende Establishment ist Ausdruck einer Sorge um den eigenen Statusverlust innerhalb des Systems und die Sehnsucht einer Revitalisierung klassischer Werte und Tugenden wie Ordnung, Stabilität und Sicherheit. AfD-Anhänger wollen im Kontinuum der bürgerlichen Mitte bleiben, auch wenn diese Mitte sich zunehmend in Richtung sozialökologischer und liberalintellektueller Milieus verschiebt. Wir haben jedoch gesehen, dass die politische Mitte als strategische Herausforderung immer auch ein individueller Vorstellungs- und Sehnsuchtsort ist, dem sich die Wählerschaft von unterschiedlichen Standpunkten und Positionen öffnet.