Das Afghanistan Thema schlägt inmitten des Wahlkampfes hinein und könnte angesichts des umfänglichen Totalversagens auch die Umfragen und Zustimmungswerte der einzelnen Parteien ordentlich durcheinanderbringen. Plötzlich zieht auch die Migrationsfrage wieder in das öffentliche Bewusstsein ein. Doch wird ein sich (noch) in der Sphäre der Außenpolitik bewegendes Thema den Kampf um die Wählerzustimmung neu ordnen und damit auch der AfD neue Chancen eröffnen? Oder wird Corona und die Impfpflicht das dominierende Thema bleiben?
Indirekte Impfpflicht oder Afghanistan?
Zwei Themen könnten die letzten Wochen des Wahlkampfes maßgeblich prägen. Beim Thema Impfpflicht waren die letzten Tage im AfD-nahen Umfeld unter anderem auch von der Frage geprägt, ob und wie die Partei sich zu den verstärkten Einschränkungen und Drangsalierungen gegenüber Ungeimpften positioniert bzw. ob hier eine stärkere Schwerpunktsetzung den Kampagnenverlauf dynamisieren könnte. Nun kommt mit dem Afghanistan-Desaster ein weiteres Thema hinzu, mit dem sich die AfD in der Aufmerksamkeitsökonomie inhaltlich als auch kommunikativ profilieren kann.
Impfpflicht
Manche in der Partei vermuten, dass eine entschiedenere und intensivere Opposition gegenüber der Impfpflicht angesichts der stagnierenden Umfragewerte nochmal einen Mobilisierungsschub für die AfD bringen könnte. Trotz der mittlerweile recht klaren AfD-Position sollte nach Ansicht einiger Parteimitglieder hier noch ein wesentlicher größerer Schwerpunkt gelegt werden.
Doch schauen wir einmal auf die demoskopischen Fakten zum Thema Impfen und Impfpflicht.
Zunächst einmal eine Klarstellung, was man hinsichtlich der künftigen Positionierung der AfD aus den Daten sicher nicht herauslesen sollte: Sich aus Opportunismus für Impfpflicht und Impfung aussprechen. Freiheitliche Bürgerrechte müssen selbstverständlich gewahrt bleiben. Die Daten zeigen zwar eine erhöhte Impfbereitschaft, aber gewiss keinen allzu deutlichen Zuspruch für eine Impfpflicht.
Es geht uns nicht um eine grundsätzliche inhaltliche Revision des AfD-Standpunktes zum Thema Impfung, sondern um eine demoskopische Analyse, auf deren Basis die künftige Schwerpunktsetzung im AfD-Wahlkampf aufbaut. Aufmerksamkeit ist in Wahlkampfzeiten eine begrenzte Ressource. Dementsprechend versuchen alle Parteien, stets bestimmte Themen zu priorisieren oder durch geschicktes Agenda Setting in den Medienzyklus hineinzudrücken. Entscheidend ist dabei die Popularität und Vermittelbarkeit des jeweiligen Themas. Schließlich geht es in Wahlkämpfen nicht um Aufklärungskampagnen, sondern um Mobilisierung und Polarisierung. Es geht um Exklusivität, Abgrenzung gegenüber der Konkurrenz und die Wirkungsentfaltung in einer relevanten gesellschaftlichen Mehrheit.
Man kann nicht davon ausgehen, dass knapp 13% Impfgegner innerhalb der Bevölkerung sich automatisch in Zustimmungspotentiale für die AfD übertragen lassen. Beispielsweise gibt es in vielen Fragen der Migrationspolitik sogar gesellschaftliche Mehrheiten, in dem Sinne, dass eine stärkere Zuwanderung und islamisches Einflussstreben in Europa abgelehnt werden. Dennoch bedeutet die reine Positionierung gegen mehr Massenmigration noch nicht, dass sich diese Mehrheiten dann bei Wahlen im AfD-Ergebnis widerspiegeln werden.
Die offizielle Parteilinie der AfD, beim Thema Impfung auf Freiwilligkeit und Selbstbestimmung zu setzen, ist ein vertretbarer und anschlussfähiger Standpunkt. Doch sowie sich die Partei in eine detailorientierte medizinische Debatte begibt oder gar komplett randständige Positionen („Bill Gates will uns alle mikrochippen“) verbreitet, kommuniziert sie in eine Echokammer hinein, die bereits jetzt völlig isoliert ist. Die Querdenker haben sich totgelaufen und können nur mittels bundesweiter Mobilisierung noch eine größere Masse auf die Straße bringen. Lokale Ableger sind meist versprengte Gruppen, in denen viele ihre mehr oder minder stark ausgeprägten Profilneurosen ausleben und jeder versucht, Lieblingsthemen zu platzieren, die er sich über Jahre der „Google-Recherche“ erarbeitet hat.
Wir wollen es nochmals klar betonen, um möglicherweise Missverständnissen in dieser kontroversen Position vorzubeugen: Es geht hier nicht um eine grundsätzliche inhaltliche Ablehnung der AfD-Position zum Thema Impfen und Corona, sondern um eine nüchterne Lageanalyse, inwieweit das Thema Mobilisierungskraft für diesen Wahlkampf entfalten kann und ob es in der Lage ist, an ein gewisses Grundrauschen und an ein breites Stimmungsbild in der Bevölkerung anzuknüpfen. Das Projekt „Feldzug“ sieht sich auch nicht in der Rolle, themenspezifische und fachpolitische Aufschläge zu machen. Wir setzen uns primär mit politischer Kommunikation und ihrer Wirksamkeit auseinander und auf diesem Gebiet zählt eben nicht die Wünschbarkeit, sondern die Machbarkeit und die Analyse der bestehenden Lage.
Afghanistan – Der Game-Changer?
Nur wenige Themen schafften es in den vergangenen anderthalb Jahren, wenn auch nur für wenige Wochen, die Dauerberichterstattung über Corona zu unterbrechen. Auch jetzt schiebt sich inmitten der Wahlkampfhochphase mit dem außenpolitischen Desaster in Afghanistan ein neues Thema in den medialen Fokus und Corona wird in den Hintergrund gedrängt. Ob die Brisanz bis zum Wahltag anhalten wird, kann nur spekuliert werden. Dennoch können wir mit dem heutigen Stand noch gar nicht vollumfänglich begreifen, was für ein historisches Scheitern in den letzten Wochen und Tagen sichtbar wurde: Eine totale Niederlage auf allen Ebenen, deren nachträgliche Folgeeffekte möglicherweise sowohl außen- als auch innen- und sicherheitspolitische Debatten noch über die nächsten Jahre prägen werden.
Die Frage, die sich jetzt zentral stellt, ist die Rolle des Afghanistan-Themas im kommenden Wahlkampf. Grundsätzlich lässt sich beobachten, dass die Relevanz von außenpolitischen Themen seit dem Ende des Kalten Krieges auch in Deutschland abgenommen hat. Auch für Afghanistan gilt, dass laut einer Studie des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften nur 23% der Befragten die groben Zusammenhänge und einige wenige Fakten zum Afghanistan-Einsatz nennen konnten. 45% haben zwar von dem Einsatz gehört, verfügen aber über kein konkretes Wissen über die Zusammenhänge. Ganze 29% wissen gar nichts über den Afghanistan-Einsatz. Das bedeutet, dass die direkten lokalen Auswirkungen in Afghanistan in Deutschland wohl kaum ein besonderes Interesse bei der Wählerschaft erwecken werden.
Die Wahrnehmung des außenpolitische Scheiterns der Bundesregierung befindet sich auf einer Ebene, die erstmal nicht abstrakter als bspw. der Klimawandel ist, sondern Erinnerungen an 2015 wachruft. Was sich da im fernen Afghanistan anbahnt, wird zudem viel unmittelbarer das Alltagsleben der Menschen in Deutschland und Europa bestimmen. Das zeigt sich auch in der ersten Civey-Umfrage im Auftrag des Spiegels, in der eine klare Mehrheit von 79% angab, sich vor einer kommenden Migrationswelle zu sorgen.
Für die AfD ergeben sich hieraus einige kommunikative Anknüpfungspunkte:
Die Eroberungswelle der Taliban in den letzten Wochen war kein Zufall und auch kein unvorhersehbares Ereignis. Außenpolitische Experten haben ein solches Szenario schon seit Jahren vorhergesehen. Der Krieg in Afghanistan war nie zu gewinnen und am Ende war es die Ignoranz, Naivität und katastrophale Lageeinschätzung der politischen Eliten hierzulande, die nun dazu führte, dass deutsche Staatsbürger in Afghanistan nur unter schwierigsten Bedingungen evakuiert werden können. Dieses Versagen offenbart sich nicht nur am gescheiterten Afghanistan-Einsatz selbst, sondern vielmehr steht dieses Fiasko stellvertretend für viele andere Versäumnisse und Fehlentscheidungen, die auch im Zuge von Corona, Migration und Innere Sicherheit vollzogen wurden. Afghanistan ist der Kulminationspunkt, an dem sich auch die sonstige politische Inkompetenz der herrschenden politischen Klasse zeigt. Dies sollte sich als Stimmungstendenz und Tonalität in der AfD-Kommunikation widerspiegeln.
2. Die drohenden Migrationswellen
Es ist DAS Thema, was der AfD ihr historisches Momentum zwischen den Jahren 2015 – 2017 gebracht hat. Bis heute kann die AfD insbesondere im Bereich Migrationspolitik ihre stärksten Kompetenzwerte erreichen. Kein anderes Thema kennzeichnete bisher stärker ihre Parteiidentität und der Großteil der Gesamtwählerschaft verbindet die AfD mit einer restriktiven Migrationspolitik, die schließlich auch von ihrer engeren Anhängerschaft so erwartet wird.
Prognosen zufolge sitzen über drei Millionen Afghanen (knapp 10% der Gesamtbevölkerung) bereits auf gepackten Koffern. Wohlgemerkt ist dies eine ungenau geschätzte Zahl, die noch vor dem Einmarsch nach Kabul und der Manifestierung der Taliban-Herrschaft, von örtlichen Entwicklungshelfern genannt wurde. Innenminister Horst Seehofer sprach unlängst sogar von Dimensionen über fünf Millionen Migranten und die pessimistischen Prognosen verweisen im Langzeittrend gar auf acht Millionen Afghanen, die innerhalb der nächsten Monate versuchen werden, das Land zu verlassen.
Ein Teil wird sich über die ortsnahe Binnenmigration in die Nachbarländer Pakistan, Iran und Tadschikistan verstreuen, doch große Teile werden sich auf den Weg nach Europa machen und damit möglicherweise Migrationswillige aus anderen Regionen der Welt animieren, sich der Völkerwanderung anzuschließen, sofern wieder die große Losung der „Willkommenskultur“ herausgegeben wird.
2015 haben wir gesehen, was für eine Geschwindigkeit und Dynamik diese Ereignisse aufnehmen können. Über Schleppernetzwerke, die sich mutmaßlich jetzt schon die Hände reiben, könnten innerhalb weniger Tage tausende Afghanen und Migranten aus anderen Ländern vor den europäischen und deutschen Grenzen stehen. Hier kann die AfD ihr Kernthema effektiv ausspielen und möglicherweise sogar die Agenda wie schon zwischen 2015 und 2017 dominieren. Dazu müsste die Partei jedoch auch eine einheitlich-konsistente Linie verfolgen, die sich nicht in zweitrangigen Nebenschauplätzen verliert. Der Bundesvorsitzende Jörg Meuthen, der bisher kaum durch eigene Akzente im Wahlkampf aufgefallen ist, verkündete bereits via Twitter und Facebook, dass die Bundesregierung sich schnellstmöglich auch für die afghanischen Ortskräfte einsetzen müsse. Kein Wort verliert er jedoch über die Folgen der kommenden Migrationswelle, die Verantwortung der Amerikaner oder die politischen Möglichkeiten einer Unterstützung der afghanischen Nachbarländer, um große Migrationsbewegungen präventiv einzudämmen. Stattdessen liefert Meuthen ein völlig unnötiges Framing von der deutschen Verantwortung (die grundsätzlich und auch objektiv erstmal hinterfragt werden kann) und bringt damit den identischen linken Moralismus zum Ausdruck.
Von einer Oppositionspartei sollte man in solchen Fragen eigentlich eine nüchternere, pragmatischere und vor allem auch bissigere und grundsätzlichere Haltung erwarten können und nicht einfach nur das harmonische Einstimmen auf ein Framing, was längst durch alle medialen Sirenen jault.
3. Die ethnisch-kulturelle Differenz.
Neben der offensichtlichen militärischen und politischen Niederlage musste auch die Gleichheitsideologie des Westens einen herben Rückschlag erfahren. Gezwungenermaßen müssen nun auch die höchsten politischen Entscheidungsträger einsehen, dass Demokratie und westliche Werte als Exportgüter global eben doch weniger ideologische Abnehmer finden als vermutet. Zu einer ehrlichen Analyse wird nun auch gehören, dass die afghanische Bevölkerung zu 99% die Scharia in ihrem Land befürwortet.
Es gehört auch die Einsicht dazu, dass die über Jahre ausgebildete und hochgerüstete afghanische Armee nie einen echten Willen hatte, im Sinne des Westens einen modernen Staat zu verteidigen und die Loyalitätsbeziehungen in diesem Land eher irgendwelchen Stammesführern und Warlords gilt. Das westliche Heilsversprechen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit scheint in Afghanistan keine Euphorie ausgelöst zu haben und zur ganzen Wahrheit gehört auch, dass die afghanische Bevölkerung mehrheitlich eben nicht die Rückkehr der Nato-Truppen herbeisehnt oder auf dem Kabuler Flughafen auf eine Fluchtmöglichkeit wartet. Im Gesamtbild wurde die Taliban-Ankunft in den einzelnen Provinzen bejubelt und die örtliche Bevölkerung konnte sich durchaus schnell und flexibel mit den neuen islamistischen Machthabern arrangieren.
Diese Einsicht sollte jetzt auch von der AfD angesichts des Scheiterns der Integrationspolitik im eigenen Land kommunikativ verbreitet werden. Kulturen, Wertevorstellungen und Moralmaßstäbe haben keinen gemeinsamen globalen Nenner. Das bedeutet, dass sowohl westliche militärische Interventionen mit „Demokratisierungsauftrag“ aufgrund der kulturellen Andersartigkeit des jeweiligen „Schurkenstaates“ scheitern müssen, als auch dass die Massenmigration von Millionen Menschen aus fremden Kulturen nach Europa stets unter der Schablone kultureller und demographischer Kompatibilität betrachtet werden muss.
Fazit:
Ob Afghanistan und die daraus resultierenden Folgen ein wahlentscheidendes Thema werden, wird sich vermutlich im Verlauf dieser Woche entscheiden. Für die AfD eröffnet sich hier zumindest ein neuer Chancenraum, um ihr migrationspolitisches Kernthema im öffentlichen Diskurs zu platzieren.