Wer Wahlen gewinnen will muss Wähler mobilisieren. Eine Banalität. Doch häufig scheitert es an den richtigen Analyseansätzen der eigenen Zielgruppe und der effizienten Auswahl von Werkzeugen. Wir geben einen Impuls. Schauen über den Atlantik auf US-Wahlkämpfe und geben einen Überblick über die Technik des „Community Organizings“.
Die Bundestagswahl im Jahr 1972: Eine Rekordwahlbeteiligung von 91% und ein stabiles Dreiparteiensystem im Bundestag, in dem die CDU und die SPD die dominierenden Volksparteien sind und mit einer überschaubaren FDP von knapp 8% Stimmenanteil vervollständigt werden. Die Milieuzugehörigkeiten und ihre Parteipräferenzen sind klar verteilt und strukturiert. Die SPD ist die Stimme der Arbeiter und Gewerkschafter, während sich die CDU auf die damals recht starke Gruppe christlich geprägter Menschen und den klassischen Konservativen kümmert. Die sozialen Großgruppen waren eindeutiger zugeordnet und somit wusste auch jede Partei, wie sie zu mobilisieren waren.
2021 sind die Wählerstrukturen und die sozialen Milieus mit ihrer entsprechenden Parteibindung deutlich volatiler, dynamischer und unbestimmter geworden. Während die SPD im linken Lager von den Grünen und den Linken in den letzten Jahren kannibalisiert worden ist, erlebt die CDU eine Aufspaltung, in der sich der progressive Wählerflügel in Richtung der Grünen orientiert und die „konservative“ Flanke in Teilen zur AfD abwandert. Dadurch sind Mobilisierungsstrategien und die Organisation von Wählermehrheiten heute deutlich komplexer geworden und erfordern aufgrund der Vielzahl an modernen digitalen und analogen Kommunikationsmöglichkeiten mehr taktische Flexibilität und Kreativität. Zielgruppen werden differenzierter und kleinteiliger. Die Aufmerksamkeitsökonomie muss die Balance zwischen Kreativität und schnellem, einprägsamen Verständnis der Kernbotschaft halten, um wahrnehmbar zu sein.
Mobilisierung!
Wahlkampf heißt Mobilisierung! Auch wenn dies eine banale Erkenntnis sein mag, so verlangt sie dennoch, dass in Wahlkampfzeiten die Debattenstandpunkte, Themen und Programme ausdiskutiert sind und als politische Angebote bereits vorliegen. Das Programm und die ausgewählten Themenschwerpunkte sind hierbei eine Art politische „Produktentwicklung“, während der Wahlkampf schließlich der „Launch“ im politischen Wettbewerb ist, wobei der größte Fokus auf den Vertrieb gelegt wird. Wer Wahlen gewinnen will, braucht schlicht und ergreifend Masse! Diese Masse muss schließlich sichtbar und dem Wortsinne nach „mobil“, also „beweglich“, gemacht werden. Das heißt Animierung, das meint das Herausholen aus der Passivität und die Einbeziehung in aktive und gestalterische Handlungsprozesse.
Community Organizing
Wie kann in Wahlkampfzeiten erfolgreiche Mobilisierung gelingen, die über die rein frontale und appellative Wahlaufforderung hinausgeht? Die meisten traditionellen Wahlkämpfer legen ihren Fokus auf den Tag X – den Wahltag, an dem die Hochrechnungen, Prognosen einlaufen und schließlich das Endergebnis feststeht. Sie denken Wahlkampf rein ergebnisorientiert. Die Erwartungshaltung an die Zielgruppe beschränkt sich auf den Akt der Stimmenabgabe. Ohne Frage: Das ist effizient, pragmatisch und vor allem auch logisch. Doch es baut mitunter auch eine Denkblockade ein, die dazu führt, den (potentiellen) Wähler über die Hochphase des Wahlkampfes hinweg lediglich als passiven Akteur zu betrachten. Dieser wird mit politischen Informationsangeboten übersättigt und bleibt in einem zurückhaltenden Modus, in dem er erreichbar wird für Parteien mit ähnlichen oder identischen Forderungen und damit häufig auch für deren Kernbotschaften.
Ein Blick in die USA
In den USA sehen die Kandidaten und Parteien ihre Anhängerschaft und Zielgruppen spätestens seit der fulminanten Wahlkampagne von Barack Obama 2008 nicht mehr nur als anonyme Wählermasse, sondern schaffen im Wahlkampf eine dynamische Euphorie- und Aufbruchsstimmung. Wir kennen alle den amerikanischen Hang zur Showeinlage und Inszenierung, aber wer die Kampagnenmodellierung und Erzählungen nachvollzieht, sieht, dass viele Unterstützer und Wähler den Ausgang der jeweiligen Wahl in den USA auch mit ihrem individuellen Schicksal verbinden. Nicht politische Sachverhalte allein bestimmen das mentale Setting der Menschen, sondern die Verknüpfung mit ihren unmittelbaren Lebensrealitäten. Wenn bspw. die AfD von Migration spricht, so muss sie dieses Thema direkt mit Geschichten von Jugendlichen verbinden, die als deutsche Minderheit in ihren Schulen gemobbt werden. Wer von Meinungsfreiheit redet, der muss jene Leute im Hinterkopf haben, deren Leben von substanziellen Rissen in ihren familiären und freundschaftlichen Beziehungen gezeichnet ist. Wer die Energiewende kritisiert, muss eine lebhafte Geschichte präsentieren, die authentisch und mitreißend die Folgen und Gefahren eines möglichen „Blackouts“ beschreibt. Wer von Abgabenbelastung spricht, muss das kommunikative Setting so gestalten, dass tatsächliche Lebensschicksale von jungen und ländlichen Familien dokumentiert werden, die als Leistungsträger der Gesellschaft in Vollzeit arbeiten, aber dennoch keine Rücklagen für die Altersvorsorge oder den Hausbau bilden können.
Das Wahlkampfverständnis in den „War-Rooms“ der Parteien in den USA unterscheidet sich von der deutschen und europäischen Mentalität insoweit, dass die eigene gebundene Wähler- und Anhängerschaft nicht als passives Subjekt betrachtet wird. Durch die großen Wählerregistrierungsdatenbanken können eine Vielzahl individueller Daten gewonnen werden, mit denen passgenaue Ansprachen in den unterschiedlichsten sozialen und geographischen Milieus erstellt werden können. Auf dieser Basis können die „Campaign-Manager“ recht zuverlässig die sichere Stammwählerschaft und weitere realistische Mobilisierungspotentiale vorhersagen. Zugleich können unerreichbare Wählergruppen ausgeschlossen werden, um das Kampagnenmanagement effizient zu gestalten und unnötigen finanziellen und personellen Werbeeinsatz zu vermeiden. Das heißt, in den USA werden die Republikaner kaum Wahlkampf in den demokratisch dominierten Bundesstaat Kalifornien führen. Zugleich werden die demokratischen Wahlkämpfer klassische republikanische Staaten wie Texas oder Kentucky meiden. Dort, wo die Lage jedoch auf der Kippe steht („Swing States“), geht es schließlich um den großen Mobilisierungskampf der eigenen Anhänger, deren Aktivierung und Einbindung mit dem Erfolg oder Misserfolg der gesamten Kampagne verknüpft wird.
Wer in den USA Wahlen gewinnen will, braucht horrende Gelder für die Mediabudgets, aber viel wichtiger ist ein Heer an freiwilligen Helfern, die als Multiplikatoren, Netzwerker und Botschafter der Kampagne fungieren. Die wachsende Fokussierung auf die Mobilisierung von freiwilligen Unterstützern geht auf das Konzept des „Community Organizings“ zurück, welches von dem amerikanischen Soziologen und Bürgerrechtler Saul Alinsky erarbeitet wurde, der erstmals Aktivierungs- und Mobilisierungsmöglichkeiten von lokalen Communitys hinsichtlich ihrer Selbstwirksamkeit und Organisationsfähigkeit untersuchte. Seine Theorien haben die Kampagnen von Barack Obama und Hillary Clinton geprägt. Letztere verfasste sogar ihre Studienabschlussarbeit über sein Konzept des Community Organizings.
Alinsky ging davon aus, dass lokale Gemeinschaften keine externe Instanz benötigen, um ihre Interessen auch fernab bestimmter Medienzyklen und Machtstrukturen wirksam zu formulieren. Es geht darum, Menschen aus ihrer Ohnmachtsposition zu befreien und zu politischer und sozialer Selbstermächtigung- und Organisation zu befähigen. Als geschulter Marxist beschreibt Alinsky detailliert den Prozess der gezielten Einflussnahme in die Gemeinwesenarbeit, um diese für politische Zwecke dienstbar zu machen. Obama transformierte dieses Konzept schließlich erstmals in seine eigene Präsidentschaftswahlkampagne 2008 und konnte damit landesweit in verschiedenen regionalen und sozialen Communitys bis zu 2,2 Millionen Freiwillige mobilisieren, die für ihn an Haustüren klopften, Telefonate führten und Wahlwerbung innerhalb ihrer eigenen kleinen sozialen Gemeinschaften betrieben. Wie die Kampagne es schaffte, die eigenen Anhänger soweit zu elektrisieren, dass sie bereit waren, aus ihrer passiven Rolle herauszutreten und als unmittelbare Wahlkampfhelfer aktiv wurden, beschreibt Elizabeth McKenna in ihrem Buch „Groundbreakers“. Die Kampagne schaffte es, durch detaillierte Zielgruppenanalyse, einer emotionalen Erzählung, die für viele eine passende individuelle Identifikationsfläche anbot und durch ein gutes Management dieser Freiwilligen-Armee maximale Erfolge zu generieren. In den USA gilt dieser Kampagnenansatz inzwischen als Blaupause für viele weitere Kampagnen, die sogar von den Republikanern adaptiert wurden. Unerwähnt darf man jedoch nicht lassen, dass das Fundament eines solchen Ansatzes auf der Verfügbarkeit von Millionen hochdetaillierten Wählerdaten und Analysen beruhen, die meist für teures Geld von den Kampagnenteams eingekauft werden. In Deutschland und Europa setzt ein recht strenger Datenschutz hier einige Limitierungen.
Trotz der recht US-spezifischen Struktur und Wahlkampfmentalität könnten einzelne Bausteine, Werkzeuge und vor allem das grundlegende Verständnis des Community Organizings auch für die AfD in Deutschland übernommen werden. Es geht darum, Techniken und Ideen zu entwickeln, wie einerseits langfristige Wählerstrukturen aufgebaut und gehalten und andererseits Aktivitätsmöglichkeiten auch für Nicht-Parteimitglieder geschaffen können. Für politische Parteien, die Community Organizing betreiben, heißt dies zu folgenden Einsichten zu kommen:
Was kann die AfD hier leisten?
Bei der Landtagswahl dieses Jahres verlor die AfD in Sachsen-Anhalt 14 ihrer bisherigen 15 Direktmandate. Das ist angesichts von erst zwei Antritten zu einer Landtagswahl und den besonderen Umständen der Landtagswahl 2016 noch nicht besonders aussagekräftig. Es zeigt aber auch ein nüchternes Ergebnis, nämlich dass es innerhalb der ersten fünf Jahre nicht gelungen ist, in den starken Wahlkreisen robuste lokale Strukturen aufzubauen. Die demoskopische Stärke in einzelnen Regionen sollte jedoch stets für die langfristige Etablierung und Sichtbarkeit vor Ort genutzt werden.
Für die parteipolitische Wahlkreisarbeit vor Ort kann dies bedeuten, zu bestimmten regionalpolitischen Anliegen mittels infrastruktureller und organisatorischer Hilfe für die Partei örtliche Bürgernetzwerke aufzubauen und zu unterstützen. Man muss dauerhaft sichtbar bleiben und zugleich kontinuierlich politische Aktivitätsangebote schaffen. Wahlkreisbüros mit alleiniger Ausstellungsscheibe des Agitationsmaterials und der wöchentlichen Bürgersprechstunde werden künftig nicht mehr ausreichen, um vor Ort politische Wirksamkeit zu entfalten. Die Menschen müssen in ihrem unmittelbaren regionalen Nahbereich Sozialangebote, Nachbarschaftsnetzwerke, räumliche Anlaufstellen, Organisations- und Debattenplattformen und zugleich auch ein umfassendes Kultur- und Unterhaltungsangebot bekommen. Zusammenfassend geht es darum, für die Menschen Partizipationsmöglichkeiten in politischer und sozialer Hinsicht zu gestalten.
Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2020 hat gezeigt, dass insbesondere AfD-Sympathisanten eine erhöhte Bereitschaft zur lokalen politischen Unterstützungsarbeit aufweisen und sich häufiger als andere Parteianhänger in Bürgernetzwerken engagieren oder gar direkt einen Wahlkampf unterstützt haben. Innerhalb des eigenen sozialen und partnerschaftlichen Umfeldes sind es vor allem die AfD-Wähler, die häufiger über politische Themen diskutieren.
Auch dies könnte als Indiz dafür gedeutet werden, dass hier noch einiges an viralem Potential in örtlicher Netzwerkarbeit liegt. Denn wie Studien aus den USA zeigten, zählt zu den wirksamsten Überzeugungsmitteln die soziale und politische Orientierung und Imitation des Wahlverhaltens des Nachbarn, Lebenspartners oder Freundeskreises. Während in Wahlkämpfen tausende Plakate an den Straßenlaternen hängen, fängt die Dorfgemeinschaft an über Themen zu sprechen, auszuhandeln und sich zu vergewissern. Genau an dieser Stelle setzt effektives Community Organizing an, indem der Raum des rein informativen und unnahbaren Appels verlassen wird und die Menschen selbst, ihr Lebensumfeld und ihre Diskurse mit aktivierenden Maßnahmen adressiert werden.
Doch was kann neben der langfristigen politischen Verankerung für den kurzfristigen Wahlkampf mitgenommen werden?
Haustürwahlkampf:
Auch hier müssen einmal mehr die US-Wahlkämpfe als Blaupause herhalten, um zu verstehen, wie moderner Wahlkampf funktioniert. Auch wenn das Tool Haustürwahlkampf selbst nicht besonders neu und innovativ erscheint, so erlebt es bei vielen Parteien derzeit eine Renaissance und wird als Möglichkeit direkter Wähleransprache gesehen. Kleinere Feldstudien in europäischen Wahlkämpfen, in denen der Einsatz von Haustürwahlkampf mit der Wahlbeteiligung abgeglichen wurden, zeigten kleinere Zuwächse in der Wahlbeteiligung zwischen 2-8%.
Neben dem Effizienzargument kommt hinzu, dass Haustürwahlkämpfe als unmittelbare Face-to-Face Kommunikation vertrauensbildend sind und der Adressat dabei möglicherweise Vorurteile und Vertrauensbarrieren abbauen kann. Zugleich kann die Fülle an politischen Informationsangeboten im direkten Gespräch auf die individuell wichtigsten Fragen und Probleme reduziert werden, wodurch zugleich der Orientierungseffekt steigt.
App-Lösungen
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Erkenntnisgewinn für die Partei über ihre eigene gebundene oder potentielle Zielgruppe. Nahezu alle Parteien, die auch in diesem Wahlkampf verstärkt auf Haustürwahlkampf setzen, bieten für ihre Wahlkämpfer digitale App-Lösungen an, mit deren Hilfe die Eindrücke, Erfahrungen und Erkenntnisse aus den örtlichen Haustürgesprächen direkt und anonymisiert dokumentiert werden können. Über Fragenkataloge und digitale Evaluationsbögen kann die jeweilige Partei zahlreiche demographische Struktur- und Wählerdaten sammeln, diese nach regionalen Schwerpunkten differenzieren und dann auch in die strategische Planung und Analyse künftiger Kampagnen einbinden. Zusätzlich schaffen derartige Angebote und Werkzeuge auch konkrete Mitmachangebote für die eigene Parteibasis. Dies schafft Wahlkampfdynamik und bietet ein niederschwelliges Angebot, bei dem jeder mitmachen kann. Durch die App wird ein motivierender Wettbewerb geschaffen: Wer klingelt die meisten Haustüren in der Woche ab? Wie viele Infostände hat diese oder jene Parteimannschaft organisiert? Es gilt die spaßige und fast schon sportliche Herausforderung (die Gamification) mit dem Nützlichen zu verbinden.
Fazit:
Die AfD muss keine Scheu vor experimentellem und innovativem Wahlkampf haben. Das Handwerk des Community Organizings sollte im Spannungsfeld von sich zuspitzenden kulturellen Konflikten und der Notwendigkeit der langfristigen Parteietablierung- und Verankerung eine intensivere Beachtung erfahren. Dafür bräuchte es innerhalb der AfD einen umfassenden Innovationsschub, einen modernen und professionellen Anspruch an Parteikampagnen und vor allem auch eine personelle und geistige Verjüngung in den Parteientscheidungsgremien.