Nach welchen Kriterien werden Strategien zur Wählermobilisierung entworfen? Welche Fragen stellen sich im Rahmen der eigenen Parteipositionierung und Zielgruppenansprache? Wir analysieren die beiden Modelle der „Jagd- und Mobilisierungsstrategie“ und wollen eine Debatte anregen, welcher Ansatz sich für die AfD am besten eignet.
Als sich die AfD vor wenigen Wochen noch inmitten des parteiinternen Wahlkampfes zwischen den beiden Spitzenduos Weidel/Chrupalla und Cotar/Wundrak befand, setzte insbesondere das Team Cotar/Wundrak auf eine immer wiederkehrende Botschaft: Man wolle mit Blick auf die Bundestagswahl neue Wählerschichten und Mehrheiten erreichen, die die AfD mittel- und langfristig auch in mögliche Regierungsaufträge und Koalitionen zur politischen Mitgestaltung tragen werde. Zutreffend stellten die beiden fest, dass die AfD ihr Wählerpotential noch nicht vollständig ausschöpft und auch das Gesamtpotential auf Bundesebene deutlicher in den Bereich der 20% + X-Sphären katapultiert werden muss. So weit so gut. Doch das erklärte Ziel schwebte im luftleeren visionären Raum. Weder Cotar noch Wundrak konnten einen strategischen Weg oder eine konkrete Kampagnenmodellierung skizzieren. Der alleinige Verweis auf die bürgerliche Reputation von Wundrak und Cotar genügte nicht und das konkurrierende Spitzenteam konnte mit einer Volkswirtin und einem Unternehmer und Malermeister ebenfalls gestandene Persönlichkeiten vorweisen.
Das Institut INSA veröffentlicht einmal wöchentlich die sogenannten „Potentialanalysen“ der einzelnen Parteien, die für die jeweilige Partei zu ihrem Umfragewert auch die potentielle Wahlbereitschaft addiert, sodass sich Wachstumspotentiale ablesen lassen.
Bei jenen Menschen, die sich unter keinen Umständen vorstellen können, die jeweilige Partei zu wählen, schneidet die AfD meist am schlechtesten ab und kann aktuell auf ein theoretisches Gesamtpotential von 16% zurückgreifen. Noch Ende 2019 konnten sich 20% aller Wähler grundsätzlich vorstellen, die AfD zu wählen.
Dies deckt sich interessanterweise mit den regelmäßigen Umfragen, die auch schon vor dem Aufkommen der AfD das Potential einer Partei rechts der CDU mit knapp 20% der Wahlbevölkerung bemaßen. Der Vergleich mit den Altparteien zeigt: Der AfD gelingt es zwar, mehr als die Hälfte ihres Gesamtwählerpotentials auszuschöpfen, doch stößt sie auch schneller als andere Parteien an ihre Potentialgrenze. Die Frage danach, wie sich dieses Potential möglichst vollumfänglich ausschöpfen oder gar langfristig erweitern lässt, sollte in der AfD eine strategische Leitfrage von derartiger Wichtigkeit sein, dass sie nur mit äußerster Sorgfalt und analytischer Gründlichkeit beantwortet wird. Wer also wie Cotar und Wundrak jetzt schon verspricht, quasi 100% des AfD-Wählerpotentials für die Bundestagswahl zu mobilisieren, täuscht entweder die Mitglieder mit utopischen Visionen oder muss einen verdammt guten und cleveren Kampagnenplan in der Tasche haben.
Vor welchen Herausforderungen stehen also die AfD-Kampagnenplaner, wenn das bestehende Potential der Partei mobilisiert und idealerweise in der Gesamtheit erweitert werden soll?
Mobilisierungstechniken
Welcher Mobilisierungsstrategie die Kampagne folgt, hängt von der eigenen Positionierung im Wahlkampf ab. Der Politologe Robert Rohrschneider unterscheidet zwischen zwei strategischen Ansätzen. Nach ihm könne sich eine Partei auf den klassischen „Median-Wähler“ fokussieren, der sich aus einem groben demographischen Querschnitt zusammensetzt oder durch abgrenzende und exklusive Positionierung Zustimmung bei konkreten Zielgruppen finden, die sich mit klaren Programminhalten identifizieren können.
Daran angeknüpft stellt sich die Frage, ob sich die Partei eher an parteiungebundene Wähler richten oder verstärkt die eigene Stammwählerschaft mobilisieren sollte. Fokussiert man sich eher auf aktuelle gesellschaftliche Stimmungslagen und allgemeine Umfragewerte oder bezieht sich die Kampagne auf ein bestimmtes weltanschaulich vorgeprägtes Zielpublikum?
Diese Fragestellungen leiten auf zwei unterschiedliche strategische Ansätze hin: Die Jagdstrategie („Chasing Strategy“ nach Rohrschneider) und die Mobilisierungsstrategie. Während die Jagdstrategie ideologische Angriffsflächen vermeidet und die Kontroverse scheut, setzt die von Rohrschneider bezeichnete „Mobilisierungsstrategie“ auf Zuspitzung und verspricht, durch ideologische Polarisierung der Gesellschaft den größtmöglichen demoskopischen Brocken auf ihre Seite zu bekommen. Bei der Mobilisierungsstrategie werden mögliche Wahlbeteiligungen und Wahlszenarien berechnet und vor allem das absolute Stimmenpotential in die Wahlkampfplanung einbezogen. Es gilt, den richtigen Ton für die Kernklientel zu finden, während man bei der Jagdstrategie auf eine möglichst unverfängliche und anschlussfähige Kommunikation setzt. Die Jagdstrategie arbeitet mit einfachen und generischen Slogans, integrativen Programmen und Kandidaten ohne besondere Kanten.
Vorpolitischer Raum und Wählermobilisierung
Zu berücksichtigen ist, dass der Erfolg einer reinen Mobilisierungsstrategie wesentlich von der sozialen Struktur der jeweiligen Wählerschaft abhängt. Insbesondere Multiplikatoren und die strukturelle Verankerung der jeweiligen Partei in der Zivilgesellschaft können Mobilisierungseffekte potenzieren. Linke Parteien setzen nur selten auf eine Jagdstrategie (und damit auf breite Stimmenmaximierung), denn sie verfügen über ein engagiertes und aktives Wählermilieu, welches die Partei zur Festlegung auf konkrete Inhalte zwingt und die innerparteilichen Vertreter der Jagdstrategie übertönt.
Parteien, die auf die Jagdstrategie setzen, können kaum auf gebundene Wählermilieus zurückgreifen und dementsprechend wenig planen. Die Mobilisierungsstrategie hingegen ermöglicht eine genaue Zielgruppendifferenzierung und Potentialanalyse, indem etwa die Wahlbereitschaft in den verschiedenen demographischen Gruppen berücksichtigt wird.
In der Praxis richtet die Mobilisierungsstrategie ihren Fokus auf langfristige Stimmungstrends innerhalb des Kernmilieus, während man mit der Jagdstrategie flexibler ist und besser auf gesellschaftliche Stimmungsumschwünge reagieren kann.
Es mag erstaunen, aber bezogen auf den direkten Parteienwettbewerb sind die Vertreter der Jagdstrategie meist Gejagte der Mobilisierungsstrategen. Die Jagdstrategen sind eher auf ein neutrales Agenda Setting bedacht, während die Mobilisierungsstrategen in direkter Konkurrenz mobilisierende und polarisierende Themen in den Diskurs tragen und somit die Jagdstrategen vor sich hertreiben, bis sie zu einer Positionierung gelangen.
Die Parteien und ihre Mobilisierungsstrategien – Drei exemplarische Beispiele
CDU (Jagdstrategie): Als Volkspartei scheint es naheliegend zu sein, auf Stimmenmaximierung und quantitatives Wachstum zu setzen. Das bedeutet, wenig Angriffsfläche zu bieten, Kontroversen zu vermeiden und innere Harmonie nach außen zu strahlen zu Lasten einer programmatischen Profilschärfung. Das war über viele Jahre das Kampagnenkonzept der CDU unter Angela Merkel, welches von Demoskopen und Politikwissenschaftlern oft unter dem Begriff der „asymmetrischen Demobilisierung“ zusammengefasst wurde. Hierbei geht es darum, den Wahlkampf und das Agenda Setting möglichst von zugespitzten Debatten freizuhalten und sich nicht auf klare Positionen und Aussagen festzulegen. Die Effekte sind dabei sinkende Wahlbeteiligung und die Verfestigung der demoskopischen Mehrheitsverhältnisse. Da die SPD seit 2005 einen Großteil ihrer Wählerschaft an das Lager der Nichtwähler verloren hatte, war die asymmetrische Demobilisierung bei den letzten drei Bundestagswahlen das Erfolgsrezept der Union. Wahlkämpfe der CDU waren in den letzten Jahren auffällig unmodern und wenig ansprechend. Das heißt jedoch nicht, dass sie weniger professionell waren. Die CDU hat stets auf große und etablierte Werbeagenturen gesetzt, die das nötige Rüstzeug für die Partei ausarbeiteten, um Vertrauen zu gewinnen und Stabilität zu verkörpern – selbst mit Angela Merkel an der Spitze.
SPD (Mobilisierungsstrategie mit Ausrichtung auf ein verlorenes Klientel): Während die SPD bei ihrem letzten großen Wahlerfolg 2002 noch bewusst auf eine Jagdstrategie im Sinne einer klar mittigen Positionierung ohne viel Konfliktpotential setzte, ist sie spätestens seit 2009 in ein zunehmendes Dilemma geraten. Einerseits musste sie die an die Nichtwähler verlorenen Gruppen durch exklusive programmatische Inhalte und stark mobilisierende und motivierende Kommunikationsstrategien zurückgewinnen, um auch eine Profilkontur zur CDU herzustellen. Andererseits war die SPD stets auch an der Regierung beteiligt und konnte durch die sehr oppositionell ausgerichtete Selbstdarstellung kaum Glaubwürdigkeit erzeugen. Auch bei der Bundestagswahl 2021 bemüht sich die SPD um die möglichst klare Abgrenzung zur CDU -dieses Mal auch in der Hoffnung, dass die Union ohne Angela Merkel schwach genug sein könnte, dass andere Regierungskoalitionen ohne CDU-Beteiligung theoretisch möglich sein könnten.
Grüne (Transformation von der Mobilisierungs- zur Jagdstrategie): Über viele Jahre galten die Grünen als klassische Klientelpartei mit einer recht spezifischen Zielgruppe, die sich vor allem für Themen wie Ökologie, Klima und Umwelt interessierte. Das war eine Nische in der deutschen Wählerschaft, die nur selten über zweistellige Wahlergebnisse hinauskam. Seit der Europawahl 2019 scheint sich das bedingt durch Greta Thunberg und „Fridays for Future“ geändert zu haben. Jetzt stehen die Grünen vor der großen Herausforderung, in kurzer Zeit ihre exklusive Zielgruppenansprache soweit anzupassen, dass auch ein großer Teil der in der gesellschaftlichen „Mitte“ verorteten Wählerschaft darauf anspringt. Dieser großen Transformationsherausforderung in der eigenen Partei scheinen die Grünen aktuell zumindest nicht gewachsen zu sein, wenngleich die Festigung eines Kernpotentials von 15 – 20% in der Wählerschaft durchaus beachtlich ist.
Am Beispiel der Grünen kann man recht gut erkennen, wie und bis zu welchem Punkt diese beiden Strategien funktionieren bzw. bis wann sie ausgeschöpft sind.
AfD – Jagd- oder Mobilisierungsstrategie?
Wie in der Einleitung bereits beschrieben beschäftigt der Ausbau des eigenen Wählerpotentials die AfD nicht erst seit Kurzem. Als Frauke Petry kurz vor der Bundestagswahl 2017 der Partei eine Strategiedebatte aufdrängen wollte, war dies sogar ein entscheidender Auslöser für die darauffolgende Spaltung der damaligen Parteivorsitzenden von der neu gegründeten AfD-Fraktion sowie den schlussendlichen Austritt aus der Partei. Dass es bei Petry hier um deutlich mehr ging als nur um eine Strategiedebatte und verletzte Eitelkeiten, steht außer Frage, ist hier jedoch nicht Gegenstand des Artikels.
Die AfD gilt im Osten bereits als Volkspartei und kann dort breite Wählerschichten mobilisieren. Im Westen bleibt sie jedoch eine Nischenpartei um die 8-10%. Mit der Kampagne „Deutschland-Aber normal“ erweckt die Partei zumindest den Eindruck, im Wahlkampf 2021 eher auf eine Jagdstrategie zu setzen und noch unerschlossene Wählermilieus durch ein freundlicheres kommunikatives Auftreten zu erschließen. Es geht darum, ein Kontrastbild zum extern zugeschriebenen Parteiimage und dem tatsächlichen Selbstbild zu zeichnen. Wir haben bereits vor Kurzem in einer umfangreichen Kampagnenanalyse darauf verwiesen, dass die Gefahr des diesjährigen AfD-Wahlkampfes darin besteht, eine Imagekampagne, dessen Erfolg oder Misserfolg erst nach längeren Zeiträumen messbar ist, mit einer Wahlkampagne zu verwechseln. Die neue CI und die Tonalität unter dem Label „Deutschland. Aber normal“ ist grundsätzlich gelungen, der kurzfristige Einsatz für einen Wahlkampf jedoch mindestens eine riskante Strategie.
Sollte die AfD also auf eine Jagdstrategie setzen mit dem Ziel, die gesamte Wählerschaft zu erreichen und damit auch auf neue soziale Gruppen abzielen wie Frauen im Alter von 65+ oder sehr junge Erstwähler von 18-24 Jahren? Manche Leute in der Partei wünschen sich natürlich möglichst schnelle Regierungsbeteiligungen und verweisen darauf, dass Wahlen am Ende immer in der Mitte gewonnen werden (Sprichwort der alten SPD-Führung zu Beginn des Jahrtausends). Doch die Parteiführung erweckt nicht den Eindruck, dass sie neben den großen Verlautbarungen der programmatischen und kommunikativen Anschlussfähigkeit an die „Mitte“ auch eine langfristige Strategie hat. Hier fehlt es leider an konkreten Umsetzungsideen.
Wie die INSA-Potentialanalysen oben auch zeigen, polarisiert keine Partei so stark wie die AfD. Die Partei ist auch ein Ergebnis jahrelanger gesellschaftlicher Zuspitzungen und der Bündelung des fundamentalen Protestpotentials gegen den herrschenden Mainstream. Das Pokern auf Stimmenmaximierung mittels oben beschriebener Jagdstrategie könnte gewaltig nach hinten losgehen: Verliert die AfD durch inhaltliche Entschärfung ihren Oppositionscharakter, verliert sie auch ihre Parteiidentität und damit die Herzen ihrer Anhänger.
Die AfD lebt von ihrem Programm, ihren Forderungen, ihren Inhalten und nicht von den entsprechenden personellen Protagonisten. Sie zieht ihre Mobilisierungskraft immer noch primär aus Unzufriedenen und Protestwählern, die sich angesichts der vergangenen Landtagswahlen auch als stabiles Stammwählerpotential verfestigt haben. Die Partei braucht die exklusive Abgrenzung, das thematische Momentum und muss das Agenda Setting mit ihren Inhalten dominieren. Sie muss vor allem die Stimmungslage ihrer Kernklientel treffen und die tiefen analytischen Leerstellen in der demographischen Zusammensetzung ihrer Wählerschaft schließen, um die richtige Kommunikationsstrategie anzuwenden.
Die AfD sollte daher in ihrer kurz- bis mittelfristigen Wählermobilisierungsstrategie deutlich stärker auf die Spitze und Ausschöpfung ihres bestehenden Potentials setzen, anstatt unrealistische Luftschlösser der bundesweiten Volkspartei mit Regierungsoption zu bauen. Das heißt nicht, dass man dies nicht in eine Langzeitstrategie integrieren kann. Es ist ein Trugschluss vieler Wahlkämpfer, dass bereits erreichte Wählergruppen in der Ansprache weniger Berücksichtigung finden sollten und der Fokus auf die eher noch unerschlossenen Milieus gerichtet sein müsse. Vor allem in den volatilen Gewässern der Protestwählerschaft kann eine derartige Kampagnenstrategie schnell zum Desaster werden. Die Konsolidierung von bereits gewonnenen Wählergruppen ist mindestens genauso herausfordernd wie das Gewinnen neuer Wähler. Es muss Vertrauen aufgebaut werden, die Partei, ihr Programm und ihre Kommunikation müssen als Stimmung und Lebensgefühl in den Köpfen präsent bleiben und in gesellschaftlichen Umbruchszeiten ist es umso schwieriger, langfristige Parteibindungen aufzubauen. Hier muss man sich der nüchternen und zuweilen auch harten Realität stellen und für die Kontinuität und Einheit der Kampagne schwach repräsentierte Gruppen in der eigenen Wählerschaft weniger berücksichtigen und starke Gruppen hingegen effizienter fokussieren.
Das AfD-Wählermilieu kann zwar nicht auf so klare Klientelen wie die FDP (Partei der Unternehmer und der wirtschaftlichen Leistungsträger) oder die Linkspartei (Partei der Subalternen) blicken. Dafür sind die Motive des Protests und der Unzufriedenheit in vielen Teilen doch zu unterschiedlich. Und dennoch muss eine kluge „Mobilisierungsstrategie“ Gemeinsamkeiten, Schnittstellen und auch Abgrenzungen und Unterscheidungen zu anderen soziodemographischen Gruppen identifizieren.
Eine klassische Mobilisierungsstrategie im Sinne von Rohrschneider stellt im Besonderen die AfD vor nachfolgende Herausforderungen