Häufig werden innerparteiliche Strategiedebatten fernab der tatsächlichen Faktenlage geführt. Anekdoten, Fehlschlüsse und Spekulationen ersetzen die tatsächliche Analyse. Nachfolgende Beitragsserie widmet sich den Wählerpotentialen der AfD und versucht die innerparteilichen Konflikte mit etwas analytischen Futter anzureichern.
2021 wird mal wieder zu einem Superwahljahr werden. Neben sechs Landtagswahlen steht im Herbst auch die Bundestagswahl an. Nachdem die Partei im letzten Jahr auch erfolgreiche Wiedereinzüge in Thüringen, Sachsen und Brandenburg feiern konnte, wird 2021 die Generalprobe werden, inwieweit sich die Partei in den Parlamenten festsetzen und wie stark sie ihre Wähler im bundesdeutschen Überblick binden kann.
Zugleich steht die Partei immer noch inmitten eines Spannungsfeldes um die eigene inhaltliche Identität, programmatische Ausrichtung und angemessene Performance und Wähleransprache. Wen will man eigentlich erreichen? Wo liegen die entscheidenden Wachstumspotentiale? Was erwarten die Wähler und sollte man sich auf mögliche Regierungsbeteiligungen vorbereiten? Diese tiefgehenden Fragen werden aktuell leider noch von oberflächlichen Personaldebatten überlagert. Sie sind in einer strategischen Wahlkampfvorbereitung aber unabdingbar.
Zu einer echten Zielgruppenanalyse reichen keine anekdotischen Erzählungen an den Wahlständen. Selbstverständlich gibt es hier unterschiedliche Eindrücke für einen Wahlkämpfer in der Studentenstadt Münster und jemanden in der sächsischen Schweiz oder der Brandenburger Provinz. Hier muss es differenzierte Ansätze geben, die auf die lokalen Begebenheiten eingehen. Für einen strategischen Wahlkampf braucht es jedoch auch einen Orientierungsrahmen zu personellen Prototypen, Potentialanalysen und harten demographischen und demoskopischen Fakten.
Einen Überblick und einen Ansatz zu einer solchen Analyse soll die nachfolgende Artikelserie bieten.
Fragmentierung des Parteiensystems
Während die alte Bundesrepublik noch weitgehend von einem Zweiparteiensystem zwischen der SPD und der CDU geprägt war, erleben wir spätestens mit der Wiedervereinigung um 1990 eine Aufzerrung verschiedener politischer Parteien und Wählergruppen. Der Deutsche Bundestag besteht aus derzeit sieben Fraktionen (CSU miteingeschlossen). Alle vertretenen Parteien werden auch 2021 wieder gute Chancen haben, erneut in den Bundestag einzuziehen. Dies stellt auch die Zielgruppenanalysen und Wahlkampfstrategien vor stetig neue Herausforderungen. Während man früher noch ziemlich klare soziale Milieus feststellen konnte, sind die heutigen Wählerschaften wesentlich differenzierter, unklarer und vor allem widersprüchlicher. Weder gibt es heute noch feste Parteibindungen, noch kann man vom prototypischen „rationalen Wähler“ ausgehen, der seine Wahlentscheidung hauptsächlich an der eigenen persönlichen Lebenslage festmacht und immer genauso wählt, wie man es aufgrund seiner eigenen sozialen, ökonomischen und kulturellen Lebensumstände vermuten würde.
Die große Identitätsfrage der AfD lautet nach wie vor: Bewegung in die Mitte des Parteienspektrums, um auch für bürgerliche SPD- und CDU Wähler Attraktivität auszustrahlen? Oder die fortgesetzte Positionierung als fundamentale Oppositionskraft? Diese beiden Ansätze spalten die Partei leider nicht nur auf einer sachlich-inhaltlichen Linie, sondern sind teilweise mit erbitterten Personal- und Machtkämpfen verbunden. Abschließend lässt sich die Frage aufgrund der noch recht jungen Geschichte von nur 7 Jahren Parteigeschichte nicht beantworten. Um zu einem Ergebnis zu kommen, bräuchte es drei datenbasierte Variablen, wovon eine weitgehend bekannt ist und die anderen beiden nur rudimentär erfasst werden können:
Was wissen wir bisher über die AfD Wählerschaft?
Wie bei jeder anderen größeren Partei auch, lassen sich die Milieus einer Partei nicht auf einen bestimmten Aspekt festlegen, sondern sind different, widersprüchlich und vielfältig. Methodisch lassen sich also immer nur Signifikanzen oder Wahrscheinlichkeiten beobachten, inwieweit ein bestimmtes persönliches Einstellungsmuster eine Wahlentscheidung für die AfD begünstigt oder erschwert. Zusammengefasst lassen sich laut der überwiegenden Studienlage und demoskopischen Umfragen folgende Muster und Strukturen zusammenfassen:
Es gibt viele weitere Faktoren, die die AfD Wählerschaft auszeichnen. In allen Nachwahlbefragungen und Studien waren sechs Punkte jedoch die Kernmerkmale, in denen die AfD einen exklusiven Zielgruppenstatus innehat, der sich am stärksten von den anderen Parteien unterscheidet. Will man die Wählergruppen anderer Parteien gewinnen, gilt es also, diese Kernmerkmale besonders hervorzuheben und die stärksten Korrelationen und Überschneidungen zu den anderen Parteien und ihren Wählerschaften zu vergleichen. Im ersten Teil dieser Artikelreihe wollen wir uns daher wie in der Überschrift angekündigt mit der SPD und der CDU auseinandersetzen.
Männliche Wählerschaft:
Während der Frauen- und Männeranteil bei der CDU und SPD relativ ausgeglichen ist und bei jeder Wahl eine unterschiedliche Gewichtung erfährt, hat die AfD wie schon oben dargestellt ein deutliches Übergewicht bei den männlichen Wählern. Bis in die 90er Jahre konnte die CDU vor allem große Stimmenanteile bei den Frauen gewinnen.
Der Anteil kippte leicht zur Jahrtausendwende und konnte schließlich mit Ära Merkel als die erste weibliche Kanzlerin wieder leicht angehoben werden. Gewiss muss die AfD auch für weibliche Zielgruppen langfristig attraktiver werden. Ob diese Mammutaufgabe jedoch ein Jahr vor der Bundestagswahl und kurz vor dem Superwahljahr 2021 zu stemmen ist, kann bezweifelt werden. Hier bräuchte es vor allem Professionalisierung, Imagepflege und personell neue authentische und ansprechende Gesichter. Zugleich ist aber eine Zielgruppenansprache, die sich ausschließlich am Faktor des Geschlechts orientiert, zu abstrakt und nicht umsetzbar.
Unzufriedenheit:
Als Regierungsparteien überrascht es nicht, dass CDU und SPD von hohen Zustimmungswerten aus ihrer Kernwählerschaft für ihre Regierungsarbeit profitieren können. Hinsichtlich der Beurteilung der gesellschaftlichen Transformationsprozesse unterscheiden sich AfD-Wähler und die Wähler der klassischen Volksparteien deutlich voneinander. Keine der etablierten Volksparteien kann glaubhaft irgendein Protestpotential akkumulieren oder angesichts der gesellschaftlichen Polarisierungen die Unzufriedenen und das soziale Prekariat zurückgewinnen.
Die Unterteilung der Gesellschaft in zufriedene und unzufriedene Bürger verläuft schließlich entlang grundsätzlicher Kultur- und Einstellungskonflikte und nicht zwangsläufig in ökonomischen Kategorien. Hier kann die AfD erneut ein Alleinstellungsmerkmal ausspielen und den politischen Antagonismus zu den „Altparteien“ weiter zuspitzen und verschärfen. Innerhalb der etablierten Volksparteien scheinen sich also kaum ernsthaft Wähler zu finden, die mit ihrer eigenen sozialen Statuslage unzufrieden sind und die auch weniger Sorge vor der Zukunft haben. Allein dieser Befund macht deutlich, dass es hier keine relevanten Zielgruppen abzuholen gibt und sich die große Masse der Unzufriedenen bei anderen Parteien sammelt oder gar nicht mehr wählt.
Vor allem der Exodus der SPD zeigt, dass die einstige Arbeiterpartei ihre Stammklientel vorwiegend an die Nichtwähler verloren hat. Seit 1998 hat sich ihre Wählerschaft faktisch halbiert, was durchaus auch in Korrelation der gesunkenen Wahlbeteiligung stehen kann, die 1998 noch bei 82,2% lag und bis zur Bundestagswahl 2009 sogar auf einen historischen Tiefstand von 70% gesunken ist. Die anderen Parteien hatten im Gegenzug jedoch auch keine relevanten Zuwächse. Hier liegt vermutlich ein großer Schatz an zu gewinnenden Wählern, die nicht mehr unmittelbar an die heutige SPD gebunden sind. Die höheren Wahlbeteiligungen der letzten Jahre bei Bundestags- und Landtagswahlen kamen insbesondere der AfD zugute.
Modernisierungsskepsis:
Die Tendenzen der Globalisierung, die linksliberalen Gesellschaftsexperimente und die kulturellen Konfliktlinien, die im Zuge der Immigration entstanden sind, haben sowohl die SPD als auch die CDU bereits beantwortet: Nämlich zugunsten jener die von diesen Entwicklungen profitieren oder sie mittelbar mittragen und vorantreiben. Insbesondere die Einwanderung und innere Sicherheit war die Klammer, die für die AfD eine große Wählerkoalition seit 2015 geschmiedet hat. Die CDU hat sich unter der Führung von Angela Merkel deutlich für mehr Einwanderung nach Deutschland entschieden. Parteiinterne Kritiker und Interessengruppen der CDU- Politik spielen als ernsthafte Widersacher kaum eine Rolle. Mit den Folgen der gestiegenen Kriminalität und dem zugleich ersten islamistischen Terroranschlag auf deutschem Boden, mit mehreren Toten am Berliner Breitscheidplatz hat die CDU zugleich viel Glaubwürdigkeit im Bereich der inneren Sicherheit eingebüßt. Entscheidend bleibt jedoch der kulturelle Aspekt der Einwanderung, der die AfD Wähler in einem erhöhten Maße zur Wahl bewegt. Selbst wenn die CDU also einen radikalen Schwenk zur Law and Order– Partei machen würde, so kann sie immer noch keine Antworten auf die realen Probleme und Verwerfungen der Einwanderung liefern, da es auch um Fragen der individuellen Entfremdung und dem Verlustgefühl der eigenen Heimat geht und nicht nur um die Wiederherstellung der allgemeinen Ordnung oder um eine neue Integrationspolitik.
Arbeiterpartei:
Keine andere Partei hat derart wachsende Zustimmungswerte in der Arbeiterschaft wie die AfD. Im Osten der Bundesrepublik kann sie sogar die einstigen Volksparteien in diesem Berufsstand hinter sich lassen. Die Aufspaltung dieser Wählergruppe hat bereits vor vielen Jahren angefangen. Mit der AfD scheint sich eine Partei herauszubilden, die diese Klientel scheinbar binden kann und dabei sogar der sonstigen oppositionellen Arbeitervertretung in Form der Linkspartei den Rang abläuft. Auch hier scheint es also kein enges Rennen um unentschlossene Wählergruppen zu geben. „Die AfD hat sich in den letzten Jahren zunehmend ein sozialpolitisches Grundgerüst geschaffen, welches durch eine breite Wählerbasis gekennzeichnet ist und dringend ausgebaut werden. Die AfD ist die Partei der sozial-kulturell abgehängten Bürger und des bedrängten Mittelstandes in diesem Land. Der Befund zeigt sich im Übrigen sowohl in Ost- wie auch in Westdeutschland. Somit sind die Mobilisierungspotentiale recht ähnlich gelagert.
Landbevölkerung:
In dieser Wählergruppe scheint sich tatsächlich eine unmittelbare Konkurrenz, zumindest mit der CDU, abzuzeichnen. Während die urbanen Regionen von den linken Parteien dominiert werden, kämpfen AfD und CDU um die klassische Landbevölkerung und die Kleinstädte. Gründe für die nach wie vor starke Basis der CDU in der Landbevölkerung können nicht abschließend empirisch erfasst, aber mit einer naheliegenden Vermutung erklärt werden: In der klassischen Landbevölkerung zeigt sich eine traditionelle Grundtendenz, die auch mit einem konventionell bewahrenden Konservatismus verbunden ist. Als etablierte Partei ist die CDU in den ländlichen Regionen vermutlich stärker, weil sie dort bereits seit vielen Jahren in den lokalen Vereinen, Feuerwehren und kulturellen Gestaltungsinstitutionen vor Ort verankert ist. Es ist also weniger die programmatische Überzeugung der CDU, die ihnen noch die Mehrheiten in den meisten ländlichen Regionen sichert, sondern ihre personelle und strukturelle Verwurzelung und Kontinuität vor Ort. Hier gilt es für die AfD, strategische Gegenansätze zu durchdenken, die möglicherweise auch wieder ein echtes politisches und soziales Gegenangebot in den Gemeinden und Kommunen schaffen.
Altersgruppe:
Die Kernwählerschaft, die sowohl die SPD noch knapp bei ihren zweistelligen Ergebnissen hält und die CDU nicht unter 25% der Wählerzustimmung rutschen lässt, ist vor allem eines: ALT!
Während das Parteisystem in den Altersklassen U60 sich immer stärker ausdifferenziert, teilen sich die Stimmen der Ü60 Generation immer noch hauptsächlich zwischen der SPD und der CDU auf. Dies hängt sicherlich immer noch mit traditionellen Einstellungsmustern des Zweiparteienblocks der alten Bundesrepublik zusammen und ist der letzte verbliebende Faktor der Stärke für die Volksparteien, der durch die allgemeine Alterung der Gesellschaft und demographischen Entwicklung weiter gestärkt wird. Diese Zielgruppe von SPD und CDU auf Seiten der AfD ziehen zu wollen, dürfte eine riesige Ressourcenverschwendung sein. Diese Wählerschaft ist bereits traditionell durch bestimmte politische Milieus sozialisiert, wählt CDU oder SPD bereits seit Jahrzehnten und wird dies auch nicht ändern.
Auch der Medienkonsum verläuft meist kontinuierlich entlang der Mainstreammedien, denen in höheren Altersgruppen traditionell ein recht hohes Vertrauen entgegengebracht wird. Der Faktor Altersgruppen zeigt ebenso ausreichende Exklusivmerkmale und Abweichungen der AfD-Wählerschaft gegenüber den etablierten Volksparteien, die weit genug entfernt sind, als das sich eine direkte Konfrontation um die Zielgruppen von SPD und CDU lohnen und zu einer signifikanten Mehrung der eigenen Wählerbasis führen würde.
Fazit:
Selbstverständlich kann dieser Artikel nur einen Impuls dazu geben, Zielgruppen, Wählerschaften und demoskopische Wanderbewegungen genauer zu analysieren. Am Ende bleibt jede Wahlentscheidung ein individueller Akt und die Entscheider müssen sich mit statistischen Wahrscheinlichkeitsmengen, Signifikanzen und Korrelationen zufriedengeben, die ihrem Wesensgehalt nach nie den Anspruch auf Vollständigkeit erheben können. Wir haben versucht, anhand bestimmter zentraler Merkmale die stärksten Wählergruppen der AfD zu identifizieren und haben dies anschließend mit den stärksten Wählergruppen und Einstellungsmustern der etablierten Volksparteien SPD und CDU verglichen, um mögliche Überschneidungen und Zusammenhänge zu entdecken. Wie es jedoch auch schon die allgemeine Studienlage zur Wähleranalyse der AfD festgestellt hat, gibt es teilweise massive Abweichungen und Differenzen. Die Wahlmotive für die AfD unterscheiden sich zuweilen deutlich von jenen der SPD und CDU. Lediglich auf der regionalen Basis, außerhalb der urbanen Zentren kann man noch von einem ernsthaften Kampf zwischen CDU- und AfD-Wählern ausgehen. In allen anderen Gruppen liegen die Wählerreservoirs zu weit auseinander, sodass eine Zielgruppenansprache der heutigen klassischen Volksparteiwähler mit hohen Risiken verbunden ist und teilweise mit Verlusten der bereits aufgebauten Wählerbasis verknüpft sein könnte.