Seit dem Parteitag in Kalkar ist in der AfD erneut ein Richtungsstreit über die Zukunft der Partei entbrannt. Überlagert von Machtkämpfen und persönlichen Attacken werden die eigentlichen strategischen Fragen jedoch vermieden. Wer den Weg in die politische Regierungsverantwortung sollte sich nicht nur mit Stil und Ästhetik beschäftigen sondern auch die Lage richtig erkennen. Zeit für eine Bestandsaufnahme.
Die Währung der Politik ist Macht. Sie eröffnet Gestaltungsmöglichkeiten und schafft Zugang zu Institutionen und Verwaltungen, in denen die eigenen Ziele präzisiert und durchgesetzt werden können. Doch in der Macht liegt auch die Ambivalenz zwischen dem Selbstzweck und ihrem gewissenhaften Einsatz.
Jeder Akteur im parteipolitischen Spektrum, der konkrete Machtansprüche verfolgt, muss sich früher oder später auch mit Optionen, Varianten und Einsatzmöglichkeiten der Macht auseinandersetzen. Politisches Engagement versucht stets, die Machtbasis zu erweitern und seinen Einfluss auf die Zentren und Institutionen der Macht zu erhöhen. Auch die AfD beschäftigt sich zunehmend mit der Machtfrage und ihren Bedingungen. Eine Partei, die im Osten des Landes schon bald zur Volkspartei wird, die die größte Oppositionskraft im deutschen Bundestag darstellt und flächendeckend in allen Landesparlamenten vertreten ist, kommt nicht an einer realistischen Analyse der Machtoptionen vorbei. Macht kann in einer Demokratie unterschiedliche Erscheinungsformen haben, auch wenn die konventionellen parlamentarischen Mehrheiten als Zentrum der Macht gelten und sich unweigerlich die Frage stellt, wie man diese Mehrheiten erringt, um schließlich unmittelbar politische Prozesse zu gestalten.
Fernab romantisierender Träumereien von 50% + X ist vermutlich jedem halbwegs realistischen Analytiker in der AfD klar, dass Machtpotentiale am ehesten mit der CDU und/oder der FDP zu verwirklichen sind. Es geht hier nicht – wie von einigen Akteuren des „bürgerlich liberalen“ Flügels immer wieder behauptet – um eine grundsätzliche Ablehnung jeglicher Koalitionen und Regierungsbeteiligungen mit anderen Parteien. Entscheidender sind die Fragen nach dem Zeitpunkt und den Voraussetzungen für entsprechende machtpolitische Modelle.
Der Zeitpunkt:
Es geht nicht darum, ob die AfD die zur Fundamentalopposition verdammte Partei bleiben soll, sondern ein realistisches Bild davon zu erhalten, wann, wo und wie sich Möglichkeiten des Regierens und der Mitgestaltung ergeben. Das werden unzweifelhaft auch die eigenen Wähler früher oder später erwarten. Die Rolle der AfD muss die Veränderung und Gestaltung dieses Landes sein. Es geht einzig darum, welches machtpolitische Instrumentarium zum gegenwärtigen Zeitpunkt dafür am geeignetsten erscheint. Die einen wollen in Richtung „Regierungsfähigkeit und -willigkeit“ (Pazderski 2018) steuern, während der andere Teil der Partei auf das Konzept der Fundamentalopposition setzt, um dabei zuvorderst dem Anspruch einer Alternative und Opposition gerecht zu werden und Prinzipien zu wahren, anstatt sich in einer Regierungskoalition aufzureiben und Zugeständnisse machen zu müssen. Aus beiden Zielvorgaben folgen unterschiedliche Strategien.
Die einen glauben, dass eine Regierungsbeteiligung nur dann möglich sei, wenn die Partei auch in bürgerlich-konservativen Schichten als attraktiv und sympathisch wahrgenommen werde. Die „Fundamentaloppositionellen“ wollen hingegen vor allem die unteren Mittelschichten und das Prekariat ansprechen. Durch Druck auf die Altparteien sollen CDU und Co. vor das Dilemma gestellt werden, entweder mit der AfD zu regieren, oder sich in anderen unbeliebten Koalitionen aufzureiben, so dass deren Kernwählerschaft weiter erodieren und die AfD gestärkt würde. Das sind die beiden strategischen Ansätze, deren Erfolgspotentiale erst noch in kommenden Wahlen und Umfragen bestätigt oder widerlegt werden müssen. Interessant wird vor allem die Frage sein, wie sich Wählerblöcke nach der Merkel-Ära verschieben werden. Eines steht jedoch bereits fest: Die Union konkurriert kaum um die Wählerpotentiale der AfD. Mögliche Wechselwählerschaften würden eher die linken politischen Blöcke stärken. Ganze 30% aller Unionswähler würden sich für die Grünen entscheiden. Nur 3% können sich jedoch vorstellen, ihre Stimme der AfD zu geben. Die CDU wird sich daher hüten, ihren Fokus darauf zu setzen, an die AfD verlorene Wähler zurückzugewinnen. Vielmehr wird sie sich für zukünftige Machtoptionen weiter an urbanen und linksprogressiven Milieus orientieren.
Überlagert werden solche wichtigen strategischen Fragen leider von reinen Stildebatten und wechselseitiger Performancekritik innerhalb der AfD. Selbstverständlich muss sich mit der Identifizierung einer Zielgruppe auch eine bestimmte Art der politischen Kommunikation herausbilden. Aber ob Einzelpersonen und Funktionäre innerhalb der Partei potentielle Wähler von der Wahl der AfD abhalten, ist empirisch bisher noch an keiner Stelle belegt. Genauso fraglich erscheint die Annahme, dass der Wahlerfolg in ostdeutschen Bundesländern maßgeblich von den dort auftretenden Personen abhängen würde. Grundsätzlich gilt für die AfD – als relativ neue Partei – ohnehin die Regel, dass sie aufgrund ihres Programms, ihrer Positionierung und der Inhalte gewählt wird und nicht wegen der personellen Akteure. Die Debatten um die strategische Ausrichtung der Partei werden leider immer weniger entlang der tatsächlichen Bedingungen und vor allem auch immer weniger in Bezug auf die zentralen Schlüsselfragen geführt. Eine Strategie leitet sich nicht aus individuellen Anekdoten ab und sollte auch nicht mit der eigenen Ästhetik und persönlichen Wunschvorstellungen verwechselt werden.
Die AfD muss dafür vor allem einen entscheidenden Fragenkomplex beantworten:
Unter welchen Bedingungen kann die AfD politische Gestaltungsmacht in möglichen Regierungen erreichen? Wo können Zugeständnisse gemacht werden? Was kann man als Verhandlungskapital einsetzen und bei welchen Themen darf es keine Kompromisse geben?
Der Berliner AfD-Fraktionsvorsitzende Georg Pazderski schreibt dazu: Ich sage voraus: Die AfD wird schneller mit der konkreten Frage nach der Übernahme von Regierungsverantwortung konfrontiert werden, als das ihre hartnäckigsten Gegner, aber auch manche ihrer Anhänger und Repräsentanten erwarten. Dabei ist davon auszugehen, dass viele derjenigen, die einer Regierungsbeteiligung der AfD noch kritisch gegenüberstehen, in absehbarer Zeit in ihren eigenen Parteien und deren Gliederungen nicht mehr entscheidend sein werden. Es bedarf frischer Köpfe ohne Denkblockaden, um ganz neue Formen der Zusammenarbeit auszuprobieren. Diese frischen Köpfe mit dem Mut zum Risiko werden sich finden, wenn die Demontage von CDU, CSU und SPD weitergeht und unter den Altparteien einzig die immer opportunistischer und angepasster auftretenden Grünen vom Niedergang des alten Parteiensystems profitieren.
Positionspapier Pazderski 2018 – Regierungswilligkeit demonstrieren – Regierungsfähigkeit herstellen.
Das ist durchaus ein realistisches Szenario, aber Pazderski irrt, wenn über den Zeitraum der kommenden 1-2 Wahlperioden gesprochen wird. Er verkennt die tiefendimensionale gesellschaftliche Konfliktlinie zwischen Globalisten und Progressiven auf der einen und den Kommunitaristen und Konservativen/Patrioten auf der anderen Seite. Dieser entscheidende gesellschaftliche Konflikt ist nicht einfach nur eine Stil- und Ästhetikfrage, bei der sanftmütige und sensiblere Rhetorik am Ende der Erfolgsschlüssel ist. Hier muss sich die AfD wirklich den tieferen Funktionsweisen der Machtmechanik und dem „Emotional Design“ der Gesellschaft stellen. Die AfD wird insbesondere gewählt, weil sich mit ihrer Existenz ein fundamentaler Kulturkonflikt entlädt, in dem die linken Parteien an Kitt und Bindungskräften für ihre ursprüngliche Stammklientel verlieren. Mit dem Aufkommen der AfD haben sich massive Verschiebungen in der parteisoziologischen Tektonik ergeben, die deutlich machen, dass die AfD nicht einfach nur die bürgerlich-konservative Ergänzung zur CDU ist, sondern darüber hinaus Wählermilieus mobilisiert hat, die bereits seit einigen Jahren Enttäuschung und Zukunftsangst wegen der ökonomischen und identitätspolitischen Transformationen empfinden.
Genau diese Konfliktlinien müssen weiter zugespitzt werden. Die AfD ist die konfrontative Antithese zu den Altparteien und dem linken Mainstream. Ihre Aufgabe besteht darin, die Widersprüche des Establishments aufzuzeigen und weiterhin genau das anzusprechen, was aus dem herrschenden Diskurs verbannt werden soll. Der Wunsch, sich bürgerlicher und systemkonformer zu präsentieren, wirkt angesichts der verfügbaren Daten über die Wählerschaft völlig deplatziert. Die Motive für die Wahl der AfD entspringen ähnlichen Protestimpulsen wie bei der Linkspartei. Immerhin sagen 10% der Linksparteianhänger, sie könnten sich eine AfD in Regierungsverantwortung vorstellen. Bei der FDP und der CDU liegt dieser Wert nur bei 7 bzw. 8%. Das heißt im Umkehrschluss, dass über 90% der Anhänger der etablierten Parteien sich noch immer keine AfD in einer wie auch immer gearteten Regierungskoalition vorstellen können. Die einen in der AfD sehen diese Tatsache als stärkenden Faktor, der die Rolle der AfD als größte Oppositionskraft im Land unterstreicht und auf der man aufbauen sollte. Die anderen sehen in der Zielgruppensetzung auf enttäuschte Nicht- und Protestwähler jedoch eine unnötige Limitierung und ein Defizit bei der Anschlussfähigkeit an die bürgerlich-konservativen Milieus.
Am Ende geht es um die Rollenfindung und typologische Profilbildung, mit welcher Inszenierung und Darstellung die Partei in den kommenden Jahren zum einen ihre bereits erreichte Wählersubstanz halten und zum anderen noch weitere Wachstumspotentiale ausschöpfen kann. Tendenziell liegt die große Stärke der AfD tatsächlich aber in der exklusiven Mobilisierung der Arbeiter, der sozial Schwachen, des Kleinbürgertums sowie der abgehängten Landbevölkerung in infrastrukturell schwach ausgeprägten Regionen. Der Anteil der klassischen Arbeiterschaft an der Gesamtbevölkerung macht immer noch (je nach Definition, ob auch „Angestellte“ hierunter fallen) zwischen 20 und 33% aus. Mit diesem Bestand lassen sich noch weitere Potentiale von anderen Parteien und aus der Nichtwählerschaft abschöpfen. Die AfD sollte daher weiterhin auf Mobilisierung, Zuspitzung und auch klare populistische Kommunikationsstrategien setzen, anstatt sich schon allzu früh auf Wählergruppen im Bürgertum zu fokussieren. Dieses vielbeschworene „Bürgertum“ wählt in den älteren Semestern die Union und in jüngeren und urban geprägten Gruppen die Grünen. Das eine Milieu ist dabei durch stark tradierte Parteibindungen geprägt und hat meist nur wenig kritische Distanz zur Regierungspolitik; das andere Milieu steht in einer antagonistischen Kulturkonfliktlinie zu allen Werten und Inhalten, die die AfD vertreten will. Das Bürgertum wird also 2021 mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Schwarz-Grüne Koalition in die Regierungsverantwortung wählen. Der Fokus der Union wird daher mit Sicherheit darauf liegen, die Grünen zu schwächen und ihnen nicht zu viele eigene Wähler abzugeben, sodass zumindest eine Rot-Rot-Grüne Mehrheit noch knapp verhindert werden kann. Die AfD dürfte in den strategischen Überlegungen im Konrad-Adenauer-Haus keine signifikante Rolle spielen.
Weg in die Mitte?
Die AfD, das haben die letzten Jahre gezeigt, bewegt deutsche Politik allein durch ihre Existenz, ihr Programm und ihre Themensetzung. Ganz ohne Minister- oder Senatorenposten ist es bereits heute gelungen, die politische Agenda in Bund und Ländern zusehends von links zurück in die Mitte der Gesellschaft zu verschieben. Jetzt ist der Zeitpunkt erreicht, dass die AfD ihre politischen Konkurrenten zum Umdenken bewegt und so erste greifbare Verbesserungen für die Bürger erzwingt.
Positionspapier Pazderski 2018 – Regierungswilligkeit demonstrieren – Regierungsfähigkeit herstellen.
Wer wie Pazderski und Co. glaubt, dass die AfD schon jetzt mit ihrer bloßen parlamentarischen Existenz den nach links gerückten Diskurs wieder in die „Mitte“ verschoben hätte, muss nach Black Lives Matter, Säuberungen der Bundeswehr und weiterer Sicherheitsbehörden sowie der drohenden VS-Beobachtung ein ordentliches Brett vor dem Kopf haben. Radikalisierung und Hass gegen die AfD haben innerhalb nur eines Jahres enorm zugenommen, obwohl es kaum nennenswerte Skandale gab, der „Flügel“ sich auflöste, Höcke öffentlich weniger wahrnehmbar war und Kalbitz aus der Partei flog.
Genutzt hat das alles nichts, was gewiss nicht zu der Konsequenz führen sollte, radikaler aufzutreten. Dennoch muss auch ein Professor Meuthen einsehen, dass es diesmal nicht die schrillen Töne aus der Partei sind, sondern vor allem Establishment, Altparteien und Verfassungsschutz, die jetzt noch intensiver gegen die AfD vorgehen, obwohl die Jahre 2019/2020 weitgehend ohne größere – selbst verschuldete – Skandale über die Bühne gingen. Die Partei hat wahrscheinlich weniger Angriffsfläche geboten als noch 2016 – 2018; dennoch wird die Beobachtungseinstufung durch den Verfassungsschutz jetzt mit hoher Wahrscheinlichkeit kommen.
Das alles heißt nicht, dass die Beobachtung durch den VS für die Partei nicht einschneidend sein wird. Sie darf auch keine Radikalisierung als selbsterfüllende Prophezeiung zur Folge haben. Dennoch braucht die AfD endlich eine aktive Strategie gegen die VS-Beobachtung, anstatt ausschließlich in der Defensive zu verharren und juristische Gegenwehr als einzige Kommunikationssäule aufzubauen. Selbst bei juristischen Niederlagen stellt sich nämlich die strategische Frage, wie man mit einer dauerhaften Beobachtung durch den VS umgehen sollte.
Die Strategiedebatte über die künftigen Vorstellungen von Regierungsbeteiligungen oder die Stärkung eines „bürgerlich-konservativen“ Profils sollte also zunächst weniger an Personen und ihrer Performance geführt werden als vielmehr anhand verfügbarer Wählerdaten und einer realistischen Beurteilung des politischen Lagebildes in Deutschland.
Dazu gehören auch die politische Konkurrenzanalyse und die Fähigkeit, antizipieren zu können, was das Zugehen auf die AfD für die wahrscheinlichsten Koalitionspartner FDP und CDU aktuell selbst bedeuten würde. Eines steht fest: CDU und FDP sehen die AfD derzeit nicht als gleichberechtigten Akteur im politischen Parteienspektrum und gesellschaftlichen Diskurs an. Sie wollen keinen Umgang mit der AfD finden, sondern die Partei final vernichten. Die wenigen Stimmen in der Union, die sich dennoch für einen Dialog und konstruktives Zusammenarbeiten aussprechen, haben einerseits eine völlig machtlose Position in ihrer Partei und wollen zugleich ein Stimmenrückgewinnungsprojekt starten. Das Ziel von WerteUnion und Co. ist also nicht das Zugehen auf die AfD, sondern die Umverteilung der Wählerschaften in Richtung Christdemokraten. Das ist im politischen Wettbewerb ein legitimes Vorgehen und sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide Parteien sowohl hinsichtlich der Wählerschaft als auch in den Einstellungen und Motiven ihrer Mitglieder und ihres Personals viel zu weit auseinander stehen, als dass Koalitionen irgendeiner Form denkbar wären.
Fazit:
Die Debatte um die künftige Ausrichtung der AfD sollte mit wesentlich mehr Sachlichkeit und inhaltlicher Faktenevidenz geführt werden. Gegenseitige personenbezogene Schuldzuweisungen dergestalt, dass die einen nur Karrieristen und Opportunisten seien, während die anderen die Überwindung des Systems erreichen wollten, führen nicht weiter. Die Aussagen und Ideen einzelner Protagonisten sollten vor allem inhaltlich geprüft werden und nicht anhand der persönlichen Charaktereigenschaften und Machtkalküle derjenigen, die sie vortragen. Zugleich sollten Analysen und ihre Interpretation nicht auf Wunschvorstellungen und persönlichen Präferenzen aufbauen.